Der Trafikant / ebook (German Edition)
zumindest kleine Hakenkreuzanstecker am Kragen, und die meisten schienen öfter zum Friseur zu gehen als früher. Außerdem hatten sie ein seltsames Leuchten in den Augen. Ein irgendwie zuversichtliches oder hoffnungsfrohes oder beseeltes, im Grunde genommen aber auch ein eher dümmliches Leuchten war das, ganz genau konnte Franz das nicht auseinanderhalten, jedenfalls leuchteten sie und sprachen mit lauter, klarer Stimme. Der gedämpfte Plauderton der Bestell- und Verkaufsgespräche, der sich immer so gut in die Schummrigkeit der Trafik eingefügt hatte, war einem forschen und klangvoll scheppernden Ausdruck gewichen. Es hörte sich an, als ob die Kunden erst jetzt wirklich wussten, was sie wollten, beziehungsweise immer schon gesucht hatten. Immer mehr Leute grüßten mit »Heil Hitler!« und reckten dabei ihren Arm in die Höhe. Franz, dem das ein bisschen übertrieben vorkam, gewöhnte sich an, darauf mit einem unverbindlichen: »Danke, Ihnen auch!« zu antworten.
Mit dem Zeitungslesen hatte er beinah gänzlich aufgehört, die Zeitungen waren sowieso fast ausschließlich mit denselben, immer wiederkehrenden Inhalten gefüllt. Hatte man den Wienerwaldboten gelesen, kannte man auch den Bauernbündler , hatte man die Reichspost durch, konnte man sich das Volksblatt gleich sparen und so weiter. Es war, als ob die Redaktionen sich jeden Tag zu einer einzigen, riesigen Konferenz versammelten, um zur Wahrung einer scheinbaren Objektivität wenigstens die Überschriften untereinander abzustimmen und hie und da ein paar Textunterschiedlichkeiten in die ansonsten völlig gleichlautenden Artikel einzubauen. Meistens ging es um Adolf Hitler. In kürzester Zeit hatte sich der kleine Oberösterreicher in die Köpfe seiner Landsleute hineingesetzt und würde daraus sicher so schnell nicht wieder verschwinden. Alle waren sie ganz vernarrt und blöd nach diesem zackigen Mann mit dem Rauhaarbärtchen. Dabei war Heinzi eindeutig der bessere Hitler, dachte Franz, ein zumindest auf die ersten Blicke viel bemerkenswerterer Reichskanzler, einer mit weitaus mehr Zackigkeit und weitaus größerer Strahlkraft. Franz dachte oft an Monsieur de Caballé mit dem Messer in der Hose. Aber noch viel öfter dachte er an Anezka. Manchmal schrieb er ihren Namen auf ein Blatt Papier, einfach so, in Großschrift und mit Otto Trsnjeks teuerster Tinte. Oder, wenn gerade kein Papier zur Hand war, mit kleiner Schrift auf den Rand einer alten Zeitung. In einer stillen Stunde nach Ladenschluss fing er damit an, ihren Namen auf seine linke Handfläche zu schreiben, einmal, zweimal, noch einmal und immer so weiter. Er schrieb ihn auf jedes einzelne Fingerglied, auf Kuppen, Kanten und Knöchel, kritzelte ihn winzigklein auf die Gelenksfältchen und noch ein bisschen kleiner unter die Nagelränder. Nachdem auf der Hand kein freier Fleck mehr übrig war, krempelte er seinen Ärmel hoch und schrieb auf dem Arm weiter: Anezka auf dem Handgelenk, Anezka zwischen Adern und Härchen auf dem Unterarm, Anezka auf dem Ellbogen, auf dem Oberarm und in großen, wild geschwungenen Buchstaben um die Schulter herum.
An einem strahlenden Montagmorgen im April betrat der seit vierunddreißig Jahren für den Abschnitt Alsergrund/Rossau zuständige, stark übergewichtige und eben deswegen auch ziemlich kurzatmige Briefträger Heribert Pfründner die Trafik, wartete wie immer ab, bis die Glöckchen ausgeklingelt hatten, nuschelte dann ein leicht verraunztes »Heilitler!« vor sich hin, schmiss gemeinsam mit ein paar Prospekten, dem monatlich erscheinenden Bezirksblatt und einer Einladung zur feierlichen Eröffnung des Ersten Ottakringer Turnerbundheimes einen eierschalengelben Umschlag auf die Verkaufstheke, tippte zum Abschied mit zwei Fingern an seine schweißnasse Schläfe und keuchte wieder hinaus. Franz sperrte die Trafik zu, verzog sich in sein Kämmerchen, setzte sich an den Bettrand und betrachtete den Umschlag, der im rechten oberen Eck eine Briefmarke zu Ehren des stolzen österreichischen Heerführers Radetzky und links daneben den zart hingestrichenen Namenszug der Mutter trug. Er öffnete ihn mit vor Ungeduld zittrigen Fingern und begann zu lesen:
Mein lieber Franzl,
recht herzlichen Dank für Deinen Brief. Du hast so schön geschrieben, und ich habe mich sehr gefreut. Bei uns ist es warm. Der Schafberg schaut freundlich, und der See ist silbrig oder blau oder grün, wie er gerade will. Drüben haben sie große Hakenkreuzfahnen ins Ufer gepflanzt. Die spiegeln
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