Der Trafikant / ebook (German Edition)
nicht übermäßig viel zu erwarten. In der Nacht aber, dachte er weiter, in den stillen, dunklen Stunden, sähe die Sache schon anders aus. Da stünde einem die eigene Vorsicht nicht mehr im Weg, und alle Ängste, Begehrlichkeiten, und Spinnereien könnten ungehemmt durchs Hirn geistern. Franz hätte gerne mit jemandem über seine Träume gesprochen, am liebsten mit Anezka, zur Not auch mit dem Professor oder mit Otto Trsnjek oder wenigstens mit irgendeinem Kunden. Aber bis nach Mittag betraten nur zwei Menschen die Trafik: Frau Veithammer, die sich die neue Ausgabe der Illustrierten Wochenpost holte und sich bei der Gelegenheit gleich über ihren unlängst verstorbenen Gatten beschwerte, der nicht einmal im Grab etwas Gescheites zusammenbrächte, da die Blumen über ihm schon zu verwelken begännen, bevor sie überhaupt richtig zu blühen begonnen hätten, sowie ein kleines Mädchen, das nach einem mittelweichen Bleistift fragte und mit seinen winzigen Fingern die Groschen einzeln in Franz’ Hand hineinzählte. Von beiden war natürlich in Bezug auf Trauminhalte nichts Erhellendes oder sonst irgendwie Brauchbares zu erwarten. Aber vielleicht, dachte Franz, kommt es ja gar nicht drauf an, sich über Träume und deren möglichen Sinn oder wahrscheinlichen Unsinn auszutauschen, vielleicht geht es einzig und alleine darum, die Träume vollkommen erwartungslos mitzuteilen, sie praktisch wie im Lichtspielhaus einfach vom Kopfinneren auf die leere Leinwand der Außenwelt zu projizieren und damit im zufällig vorbeikommenden oder absichtsvoll herantretenden Betrachter irgendetwas zu wecken, mit ein bisschen Glück sogar etwas von Belang, Bedeutung oder Dauerhaftigkeit. Er atmete schwer aus und ließ sich in den Sessel zurücksinken. Das Herumtappen in derartig fremden und dunklen Gedankengängen erschöpfte ihn. Sein Blick fiel durch die Auslage auf die gegenüberliegende Häuserreihe. Eines der Fenster war fast vollständig mit Grünpflanzen zugewachsen, in der Schummrigkeit dahinter bewegte sich das weiße Unterhemd eines hin- und hergehenden Mannes. Franz seufzte. Er musste an den Wald denken, an das beruhigende Rauschen der Bäume und an das Vogelgezwitscher, das trotz seiner lärmenden Allgegenwärtigkeit die Waldesruhe niemals zu stören schien. An der Auslagenscheibe klebte in Blickhöhe ein grünlicher Vogelscheißebatzen. Stadtvögel zwitschern nicht, sondern schreien, dachte er missmutig. Außerdem scheißen sie einem auf den Hut und auf die Auslage und legen sich zum Sterben in irgendeine Dachbodennische, wo sie nichts weiter hinterlassen als ihre verstaubten Gerippe, ein paar Federn und ein bisschen Gestank. Er seufzte noch einmal, tiefer sogar noch als beim ersten Mal, und fast gleichzeitig mit dem Seufzer kam ihm eine Idee: Er holte etwas Klebeband aus der Schublade, nahm den Zettel mit seinem Traum, schrieb ins rechte obere Eck das Datum, ging damit auf die Straße hinaus und klebte ihn direkt über den Scheißebatzen an die Scheibe. Er trat einen Schritt zurück und betrachtete das kleine Traumplakat. Dann schloss er die Augen und atmete tief die frühlingshafte Wienerluft ein. Für einen winzigen Moment flackerte das Wort ZUKUNFT rosig und hell wie eine Prater-Leuchtschrift hinter seinen Lidern auf. Da knatterte auf der Straße hinter ihm ein mit Eisblöcken beladener Lieferwagen der Vereinigten Wiener Eisfabriken vorbei, und er ging in die Trafik zurück.
Die ersten Menschen, die der aufgeklebten Absonderlichkeit an der Auslage der Trsnjek-Trafik nähere Beachtung schenkten, waren drei Rentnerinnen, die ihre runzligen, wie aus Wurzelholz geschnitzten Gesichter so nah wie möglich an den Zettel heranreckten. Franz, der reglos im Schatten der Verkaufstheke saß, beobachtete, wie sie die Augen zukniffen, bis diese beinahe gänzlich in ihren Faltennestern verschwanden, und wie sich ihre welken Lippen im stummen Chor bewegten, um die Worte zu entziffern. Keine der drei schien auch nur das Geringste zu verstehen. Eine Weile standen sie mit offenen, zahnlosen Mündern da, dann trippelten sie davon. Als Nächstes blieben zwei Mädchen in hellen Mänteln vor der Auslage stehen. Nachdem sie den Zettel gelesen hatten, legten sie ihre Hände wie kleine Dächer über die Augen, lehnten ihre Köpfe gegen die Scheibe und schauten in den Verkaufsraum hinein. Als sie Franz sahen, liefen sie kichernd davon. Noch während er zusah, wie sich ihre beiden Atemhauchflecken an der Scheibe auflösten, kam schon der nächste
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