Der Trafikant / ebook (German Edition)
Passant heran: ein Arbeiter mit ölverschmiertem Gesicht und einer schiefen Selbstgedrehten im Mundwinkel. Mit gerunzelter Stirn überflog er die Worte, überlegte kurz, betrat dann die Trafik und baute sich vor der Verkaufstheke auf. Was denn das solle, wollte er wissen, die Sache mit der komischen Schmiererei auf dem Zettel da draußen.
Gar nichts, sagte Franz, zumindest nichts Besonderes.
Das könne er sich nicht so richtig vorstellen, meinte der Arbeiter, weil irgendein völlig unbedeutendes Geschreibsel klebe man ja nicht einfach so an die Auslagenscheibe, nur weil einem fad oder langweilig oder beides auf einmal sei.
Das möge zwar sein, sagte Franz, aber was für den einen bedeutsam sei, das sei für den anderen vielleicht eher uninteressant bis nutzlos.
Der Arbeiter starrte auf seine Schuhspitzen und ließ seine Selbstgedrehte nachdenklich in den anderen Mundwinkel hinüberwandern. Ob ihn der junge Trafikant für einen Trottel halte, fragte er leise, einen, der selber nicht entscheiden könne, was für ihn nutzlos oder bedeutsam sei.
Das sei natürlich überhaupt nicht so gemeint gewesen, antwortete Franz wahrheitsgemäß, die Trotteln säßen heutzutage anderswo.
Wo denn, wollte der Arbeiter wissen.
Eigentlich überall, meinte Franz, nur nicht hier in der Trafik.
Der Arbeiter nickte. Da könne der junge Herr Trafikant vielleicht recht haben, meinte er, trotzdem wolle er jetzt endlich wissen, was es, Herrgottsakrament, mit diesem Zettel auf sich habe.
Ein Traum, sagte Franz, nichts weiter als ein Traum.
Von der Selbstgedrehten löste sich ein Ascheflöckchen und trudelte langsam auf die Dielen hinunter.
Wenn das alles sei, meinte der Arbeiter enttäuscht, dann sei es tatsächlich eher nutzlos, zumindest was ihn persönlich betreffe.
Genau das habe er ja gesagt, antwortete Franz, allerdings werde sich eine eventuelle Nutzlosigkeit erst noch herausstellen. Denn vielleicht, fuhr er fort, vielleicht könne so ein wildfremder, an eine Auslage geklebter Traumzettel irgendwann doch bei einem zufällig vorbeikommenden Betrachter etwas bewirken oder bewegen, man wisse nie.
Ja, sagte der Arbeiter mit einem müden Seufzer, man wisse wirklich nie. Ob er aber jetzt erst einmal eine Packung Orient-Tabak, zwei Schachteln Zündhölzer und das Sport-Blatt mitnehmen könne?
Aber selbstverständlich könne er das, sagte Franz, dafür sei so eine Trafik schließlich da.
Von da an klebte Franz jeden Tag einen neuen Zettel neben die Tür. Jeden Morgen, schon vor der Ladenöffnungszeit, trat er im Schlafanzug und mit wirrer Bettfrisur auf die Straße hinaus und klebte einen frisch geträumten Traum an die nachtkühle Auslagenscheibe. Und das blieb nicht unbemerkt. Noch waren die Neugier und die Vergesslichkeit der Menschen stärker als ihre Angst, und die Trafik, die bis vor Kurzem »Zärtliche Magazine« an Juden und Kommunisten verkauft hatte, war jetzt eben die Trafik mit den merkwürdigen, kleinen Geschichten an der Scheibe. Wer vorbeikam und den Zettel entdeckte, der blieb auch stehen, um ihn zu lesen. Die meisten starrten kurz und ausdruckslos darauf und gingen dann weiter. Manche empörten sich wortlos, indem sie angewiderte Gesichter aufsetzten. Andere wiederum schüttelten die Köpfe und riefen ein paar Beschimpfungen gegen die Eingangstür. Hin und wieder jedoch konnte Franz beobachten, wie jemand beim Lesen ein wenig nachdenklich wurde und diese kleine Nachdenklichkeit still mit sich davontrug. Die Leute lasen zum Beispiel:
9. April 1938
Ein Lied wird gesungen, es geht um die Liebe, aber die Melodie eiert vor sich hin, jemand lacht und springt gleich danach von der Votivkirche, aber die Erde ist ja weich, und die Blumen blühen in allen Farben, niemand hat den toten Mann gesehen, und ein Kranich zieht ein Kreuz über den Himmel.
Oder:
12. April 1938
Ich stehe mit der Mutter am See, ein Dampfer kommt auf uns zu, ich habe Angst, aber die Mutter nimmt mich an der Hand: ES IST GUT, DU BIST JA MEIN KIND, doch der Dampfer fährt einfach weiter, der See schwankt, die Mutter ist weg, und der Dampfer kracht in das Herz hinein.
Oder:
15. April 1938
Im Prater geht ein Mädchen, es steigt ins Riesenrad, überall blitzen Hakenkreuze, das Mädchen steigt immer höher, plötzlich brechen die Wurzeln, und das Riesenrad rollt über die Stadt und walzt alles nieder, das Mädchen juchzt, und sein Kleid ist leicht und weiß wie ein Wolkenfetzen.
Den Zettel mit dem Wolkenfetzenkleid fand insbesondere Frau Dr. Dr.
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