Der Trakt
sie dich nicht erkennt?«
Sibylle zögerte. »Ja, das könnte schon sein, aber bisher war es meistens so, dass sie nach kurzer Zeit dann doch wieder wusste, wer vor ihr steht.«
»Hm«, machte Rosie nur.
»Was heißt dieses ›Hm‹?«
»Also, wenn wir davon ausgehen, dass dein Mann in diese Geschichte verwickelt ist, dann gibt es nach deiner Aussage nur vier Menschen, denen du glaubst, vertrauen zu können: dein Sohn, von dem wir nicht wissen, wo er ist, deine Freundin, die du nicht erreichen kannst, dann mich, die ich überhaupt nichts von deiner Vergangenheit wissen kann, und eine alte Frau, die wohl an Demenz leidet und dich eventuell gar nicht erkennen kann. Vorsichtig ausgedrückt, würde ich sagen, es sieht ziemlich beschissen für dich aus, Kindchen, weil es keinen einzigen Menschen zu geben scheint, der deine Geschichte bestätigen kann.« Sibylle traute sich nicht, etwas zu sagen, weil sie spürte, dass Rosie noch nicht fertig war. »Ich kann dir und auch mir selbst nicht ansatzweise erklären, warum es so ist, aber ich glaube trotz alledem, dass du die Wahrheit sagst.«
Eine Welle der Erleichterung fuhr durch Sibylles Körper. »Ich danke dir. Mir ist klar, dass das alles ziemlich verrückt klingt, und ich … herrje, ich weiß ja selbst nicht mehr, was ich glauben soll. Vor allem die Sache mit Lukas … Es ist zum Verzweifeln.«
Rosie löste eine Hand vom Lenkrad und tätschelte sanft Sibylles Oberschenkel. »Kein Grund zum Verzweifeln. Wer immer hinter dieser Sache steckt, hat nicht damit rechnen können, dass ein altes Mädchen sich mit dir verbündet, das verdammt hartnäckig ist. Wir werden deinen Sohn finden und verdammt nochmal rauskriegen, wer dir das alles angetan hat.«
»Und warum«, fügte Sibylle leise hinzu.
»Und warum«, wiederholte Rosie mit grimmiger Miene. »Selbst wenn das alles noch so gut organisiert ist – man kann die Existenz eines Menschen nicht einfach auslöschen, indem man ein paar falsche Bilder verteilt und behauptet, ihn nicht zu kennen.«
Sibylle nickte. »Das macht mir am meisten Angst, Rosie. Wer auch immer dahintersteckt, der muss das wissen und hat es trotzdem getan.«
Warum … warum nur?
Das Gebäude lag in einem weitläufigen, aber nicht sehr gepflegt aussehenden Park und wies sich auf einer verblichenen Holztafel neben der Zufahrt als »Haus Herbstregenbogen« aus.
Der Name kam Sibylle ziemlich albern vor, und sie wunderte sich, dass ihr das früher noch nie aufgefallen war. Als sie Rosie darauf ansprach, während die den Wagen gerade auf einen der vielen freien Schotterparkplätze neben dem Gebäude lenkte, verdrehte die die Augen: »Wenn ich irgendwann in ein Alter komme, in dem ich mich nicht mehr selbst versorgen kann, werde ich eher von einer hübsch hohen Brücke hüpfen, als in ein Haus zu gehen, das
Herbstregenbogen
heißt.« Und mit einem Augenzwinkern fügte sie hinzu: »Aber es sind ja Gott sei Dank noch mindestens dreißig Jahre bis dahin.«
In dem kleinen Eingangsbereich saß ein junger Mann mit unregelmäßigem Bartflaum hinter einem altmodischen Schreibtisch, der schräg vor die Ecke rechts neben der Tür gestellt worden war. Er sah sie stumm und mit unbewegter Miene an, als sie an ihm vorbeigingen. Sibylle rechnete fest damit, dass er sie aufhalten würde, aber als sie einen schnellen Blick zurückwarf, bevor sie in einen weiß getünchten Flur einbogen, sah sie, dass er sich in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte und angestrengt in einer Autozeitschrift las, die er in beiden Händen hielt.
Vor der letzten Tür auf dem Flur blieb Sibylle stehen.
»Hier ist es«, flüsterte sie, und als Rosie ihr aufmunternd zunickte, klopfte sie an, wartete kurz und öffnete dann die Tür. Rosmarie betrat hinter ihr das Zimmer und blieb neben dem Eingang stehen.
Else Aurich saß reglos in einem Rollstuhl vor einer geschlossenen, hohen Glastür, durch die man auf eine kleine Terrasse gelangen konnte. Das schräg einfallende Sonnenlicht hüllte sie in einen goldenen Schimmer. Sibylle erinnerte sich, dass sie schon oft mit ihrer Schwiegermutter dort draußen in der Sonne gesessen und grünen Tee getrunken hatte.
Die alte Frau hatte den Kopf gesenkt und sah auch nicht auf, als Sibylle auf sie zuging. Einige dünne Strähnen ihrer weißen Haare hingen seitlich herunter und verbargen ihr von tiefen Falten durchsetztes Gesicht wie ein zerfaserter Vorhang. Sibylle dachte erst, sie würde schlafen, aber als sie neben ihr stand, hob Else doch den Kopf und
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