Der Trakt
sah sie lächelnd an.
»Guten Tag, Else«, sagte sie sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wie geht es dir?«
Die Frau nickte, immer noch lächelnd. »Gut. Mir geht es gut. Es ist sehr schönes Wetter. Ich muss noch in den Garten.«
In Sibylle keimte Hoffnung auf, und sie warf Rosie einen Blick zu, den die lächelnd erwiderte.
»Ich muss noch in den Garten«, wiederholte Else Aurich.
»Ja, Else, du kannst noch in den Garten, ganz bestimmt.«
Sie zögerte einen Moment, bevor sie vorsichtig fragte: »Weißt du, wer ich bin, Else?«
Das faltige Gesicht veränderte sich nicht, während die trüben, braunen Augen Sibylle eingehend musterten.
»Aber ja, natürlich«, sagte sie schließlich und nickte mehrmals zur Unterstreichung. Sibylle konnte nicht anders, sie beugte sich herunter und umarmte die alte Frau. Wieder liefen Tränen über ihre Wangen, aber dieses Mal waren sie Ausdruck einer ungeheuren Erleichterung. »Sie sind die nette Schwester, die mich immer in den Garten bringt«, sagte Else Aurich, und nicht nur, weil Sibylles Ohr sich direkt neben ihrem Mund befand, schreckte sie zurück und sah die alte Frau entsetzt an.
Auf dem Gesicht ihrer Schwiegermutter lag unverändert das freundliche Lächeln. »Ich muss noch in den Garten. Bringen Sie mich jetzt in den Garten? Es ist so schönes Wetter heute.«
Sibylle war zu keiner Reaktion fähig. Erst ein deutliches Räuspern riss sie aus der entsetzten Starre. Als sie sich Rosie zuwandte, deutete die mit dem Kopf zu einem etwa hüfthohen Schränkchen neben sich, auf dem ein Foto in einem dunklen Eicherahmen stand. Sibylle kannte es, obwohl auf die Entfernung keine Einzelheiten erkennbar waren: ihr Hochzeitsfoto.
Mit zitternden Beinen legte Sibylle die vier Schritte bis zu dem Schrank zurück. Sie ahnte, was sie gleich auf dem Foto sehen würde. Als sie nahe genug heran war, um Einzelheiten erkennen zu können, stieß sie einen spitzen Schrei aus. Die Frau im Brautkleid, die dort Johannes Aurich glücklich lächelnd ansah und dabei den kleinen, aber sündhaft teuren Strauß aus roten Rosen vor sich hielt, an den sie sich noch so gut erinnern konnte, war … sie.
Keine Fremde, die anstatt ihrer hineinretuschiert war, sondern sie selbst, Sibylle Aurich. Die Angst, den Verstand zu verlieren, diese unglaubliche Last des Unmöglichen, die seit dem Morgen auf ihr gelegen hatte, fiel mit einem Mal von ihr ab.
Ich …
Sie hatte das Gefühl, vor Erleichterung Zentimeter über dem Boden zu schweben, als sie den Rahmen in die Hand nahm und ihn Rosie lächelnd entgegenhielt. »Siehst du, das ist der Beweis. Oh Gott, endlich. Rosie, siehst du das?«
Noch während sie sich über den seltsamen Gesichtsausdruck wunderte, mit dem Rosie abwechselnd das Foto und sie betrachtete, wurde die Tür geöffnet und eine Frau, vielleicht Anfang fünfzig, betrat das Zimmer mit einem Tablett, auf dem eine Teekanne und eine Tasse standen. Als sie Rosie und Sibylle sah, stockte sie so abrupt, dass die Kanne mit einem klingelnden Geräusch gegen die Tasse stieß und fast umgefallen wäre.
»Guten Tag.« Sie hatte eine ungewöhnlich dunkle Stimme. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Guten Tag. Selbstverständlich dürfen Sie das.« Bevor Rosie etwas sagen konnte, fuhr Sibylle fröhlich fort: »Ich bin Sibylle Aurich, die Schwiegertochter von Frau Aurich, und die nette Dame hier neben mir ist Rosemarie Wengler.«
Die Frau warf Rosie einen kurzen, irritierten Blick zu und stellte das Tablett auf dem kleinen, braunen Holztisch in der Mitte des Raumes ab. Dann sah sie Sibylle mit hochgezogenen Brauen an und sagte: »Sie … sind wer?«
»Sibylle, die Schwiegertochter von Else Aurich. Hier, sehen Sie, das Foto, da bin ich drauf, mit dem Sohn von Frau Aurich.« Noch immer lächelnd hielt sie der Frau das Foto entgegen. »Das ist mein Mann, Johannes.« Während die Pflegerin das Foto mit verständnisloser Miene betrachtete, fragte Sibylle: »Entschuldigung, Sie sind sicher neu hier, oder? Ich glaube, wir sind uns bisher noch nicht begegnet.«
Offensichtlich war die Frau sehr verwirrt, denn sie schüttelte nur stumm den Kopf und sah Sibylle dabei an, als käme sie von einem anderen Planeten.
»Nein«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme klang dabei noch eine Nuance dunkler als davor, »wir … wir sind uns noch nicht begegnet. Entschuldigen Sie bitte, ich muss Ihre … Ihre Schwiegermutter kurz zur Blutabnahme mitnehmen. Aber Sie können ruhig hier warten. Dauert nur ein
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