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Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Strobel
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hatten sie wenig gesprochen, was Sibylle sehr recht gewesen war. Sie bewunderte Rosies Einfühlungsvermögen und musste sich eingestehen, diese in jeder Hinsicht außergewöhnliche Frau unterschätzt zu haben.
    Rosie parkte den Wagen in der gepflasterten Einfahrt. Sibylle folgte ihr ins Haus und fand sich in einem Flur wieder, dessen Wände in einem satten Orange gestrichen waren. Rosie warf den Autoschlüssel auf eine mit dünnen bunten Tüchern verzierte Kommode und strahlte Sibylle an: »So, Kindchen, nun wollen wir es uns erst mal im Wohnzimmer gemütlich machen. Und wenn du Lust hast, erzählst du mir einfach alles, was du auf dem Herzen hast.«
    Sibylle lächelte ein wenig verlegen: »Wenn es dir nichts ausmacht, wäre ich dir dankbar, wenn du mich Sibylle nennen würdest. Einer meiner Lehrer hat mich früher immer Kindchen genannt, und den mochte ich gar nicht.«
    Rosie nickte und schob sie dabei ins Wohnzimmer, Sibylle setzte sich auf ein großes Sitzkissen, das gegenüber der Couch an einem niedrigen Glastisch stand. »Sibyllekindchen, ich hole uns einen leckeren Weißwein und höre dir dann so lange zu, wie du möchtest.«
    Als Rosie gegangen war, sah Sibylle sich in dem Zimmer um. Die Wände waren in einem zarten Apricot gehalten, zu dem das helle Ahornholz der Schränke und des großen Bücherregals an der Stirnwand sehr gut passte. Sibylle wunderte sich, dass nirgendwo in dem Raum Fotos aufgehängt oder aufgestellt waren. Keine junge Rosie, die glücklich von einem Regal heruntersah, kein Hochzeitsbild an einem besonderen Platz aufgehängt, kein festgehaltenes Kinderlachen, nichts.
    »So, gleich wirst du dich schon besser fühlen.« Rosie trug ein rundes Tablett, mit einer Flasche Weißwein und zwei Gläsern. Nachdem sie die Gläser abgestellt und gefüllt hatte, setzte sie sich Sibylle gegenüber auf die Couch und hob ihr Glas. »Auf uns Mädels.«
    Sibylle hätte fast aufgestöhnt, so wohltuend war das Gefühl des eiskalten Weines, als er durch ihre Kehle rann.
    Rosie lehnte sich zurück und sah sie auffordernd an. »So, jetzt erzähl mir, was dich bedrückt, Kin… – Sibylle.«
    Und Sibylle erzählte ihr alles, was sie wusste. Sie begann mit dem furchtbaren Traum und endete bei dem Anruf im Krankenhaus. Rosie zog hier und da die Brauen hoch und legte sich, als Sibylle von ihrer Begegnung mit Johannes erzählte, eine Hand auf den Mund, aber sie unterbrach sie kein einziges Mal. Erst, als Sibylle nach einem großen Schluck aus ihrem Glas stumm vor sich auf den Tisch starrte, gab Rosie einen tiefen Seufzer von sich: »Das ist mit Abstand die verrückteste Geschichte, die ich je gehört habe.«
    Sibylle konnte nichts dagegen tun, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten: »Du glaubst mir auch nicht, oder?«
    Lange sahen sie sich an, und Sibylle hatte zum ersten Mal, seit sie diese ungewöhnliche Frau kennengelernt hatte, das Gefühl, dass sie ernsthaft über etwas nachdachte. Als sie endlich bedächtig nickte, drückte sich jedes Mal, wenn sie das Kinn in Richtung Brust bewegte, eine Hautfalte ihres Doppelkinns nach außen.
    »Ich denke, diese Geschichte ist so unglaublich, dass sie wahr sein muss. So verrückt kannst du gar nicht sein, dass du dir das alles ausgedacht hast.«
    Obwohl damit noch keines ihrer Probleme gelöst war, spürte Sibylle eine große Erleichterung. Die Welt, die ihr seit diesem Morgen so irreal und fremd erschien, hatte ein kleines Stück ihres Schreckens verloren, weil sie nun nicht mehr ganz alleine darin war.
    »Ich danke dir. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viel … Weißt du, ich … Also, in den letzten Stunden habe ich mir selbst schon ein paarmal die Frage gestellt, ob ich nicht wirklich krank im Kopf bin. Aber könnte ich mich dann an jede Einzelheit der letzten Jahre erinnern? An jedes Erlebnis, das ich mit Johannes hatte, an jeden Wortwechsel? An jedes kleinste Detail in unserem Haus? An mein Kind …«
    Rosie winkte ab. »Danken kannst du mir, wenn wir deinen Sohn gefunden haben. Und was das Verrücktsein betrifft, lass dir eines von einer jungen Frau mit 61-jähriger Lebenserfahrung gesagt sein: Ein Verrückter denkt niemals darüber nach, ob er vielleicht verrückt sein könnte.«
    Sibylle beobachtete ihren rechten Mittelfinger, mit dem sie immer wieder an dem Rund des Weinglasrandes entlangstrich. »Wenn ich weiß, dass es Lukas gutgeht, wird sich alles andere finden.«
    Rosie schlug sich mit beiden Händen auf die kräftigen Oberschenkel und stand

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