Der Trakt
wohl auch kennengelernt haben. Ihren Chefs hat sie irgendein Märchen erzählt, warum Isabelle flüchten konnte. Sie war sehr nervös, als sie bei mir zu Hause war. Sie wollte sich am nächsten Tag wieder bei uns melden, hat sie aber nicht getan. Ich fürchte, sie hat Ärger bekommen.«
»Und Ihre Schwester? Die hat zu diesem Zeitpunkt geglaubt, sie hätte einen Sohn?«
»Ja. Und sie war ebenso wenig davon abzubringen wie Sie. Selbst nachdem diese Frau uns alles erzählt hatte, war Isabelle nicht bereit, auch nur darüber nachzudenken. Und hat exakt so argumentiert wie Sie: Es wäre doch wohl unmöglich, sich in allen Einzelheiten an ein eigenes Kind zu erinnern, das es in Wahrheit gar nie gegeben hat.«
Er streckte plötzlich die Arme aus und nahm ihre Hände in seine. Sie ließ es geschehen.
»Aber ich weiß ganz bestimmt, dass ich keinen Neffen habe oder hatte, Sibylle. Verstehen Sie? Es muss wahnsinnig schwer sein, das zu akzeptieren, aber deshalb weiß ich auch, dass Sie keinen Sohn haben.«
Sibylle sah ihm an, dass er mit einem erneuten Ausbruch von ihr rechnete.
»Und wie ist es zu erklären, dass mein eigener Mann mich angeblich nicht mehr kennt? Und meine beste Freundin auch nicht?«
Sie hatte den Satz noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da sah sie Rössler schon an, dass er darauf keine Antwort wusste. Seltsamerweise verspürte sie dabei so etwas wie einen Triumph und legte nach.
»Jemandem ein Kind, das es gar nicht gibt, einzuimpfen, klingt ja schon sehr verrückt. Aber mein Leben mit Johannes, mit Elke, meiner Schwiegermutter und all den anderen Menschen … Wie soll das funktionieren?«
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, gestand Rössler, und sie konnte ihm das Unbehagen deutlich ansehen, das er dabei zu empfinden schien. »Bei Isabelle sind die ja offenbar nicht so weit gekommen, weil diese Frau ihr geholfen hat. Aber wenn die sie jetzt wieder in ihrer Gewalt haben …«
»Ich muss über das, was sie mir da erzählt haben, erst mal nachdenken«, erklärte sie ihm. Und aus einer Eingebung heraus fügte sie hinzu: »Und ich möchte mit Rosie telefonieren.«
Er zog die Stirn kraus. »Werden Sie ihr erzählen, was ich Ihnen gerade gesagt habe?«
»Spricht etwas dagegen?«
Nun stand Rössler auf. Er ging zum Fenster und stützte sich auf der Holzfensterbank ab. »Ja, es spricht einiges dagegen«, sagte er. Sibylle hatte Mühe, ihn zu verstehen, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte. »Wenn Sie ihr von unserem Gespräch erzählen und sie gehört zu diesen Verbrechern, wovon ich überzeugt bin, dann wissen die anschließend ganz genau, wie viel ich weiß und können sich darauf einstellen. Sie werden damit auch Ihre eigenen Chancen zunichte machen herauszufinden, was man mit Ihnen gemacht hat und vor allem, wer das mit Ihnen gemacht hat.«
Sibylle erhob sich ebenfalls, sie ging zu Rössler und stellte sich neben ihn an das Fenster. Der Blick durch den grobmaschigen Gardinenstoff zeigte, dass das Zimmer nach vorne zur Straße heraus lag.
»Glauben Sie, was ich Ihnen erzählt habe?«, fragte er, das Gesicht noch immer dem Fenster zugewandt.
Sibylle überging die Frage: »Wer auch immer dafür verantwortlich ist – was hat er davon?«
Seufzend wandte Rössler sich ihr wieder zu. »Ich denke, es geht bei diesen Experimenten grundsätzlich darum, Menschen durch das Einpflanzen von falschen Erinnerungen zu manipulieren. Wenn man das politisch einsetzen würde … Sie spüren doch gerade am eigenen Leib, wie gut es funktioniert. Menschen handeln aufgrund von Erfahrungen, die sie gemacht haben. Stellen Sie sich vor, man könnte Politikern oder hohen Militärs beliebige Erinnerungen eingeben, die sie dann für ihre eigenen halten.«
Sibylle dachte nach, aber sie war in diesem Moment nicht in der Lage zu verstehen, worauf Rössler hinauswollte. Immer wieder drängte sich das Bild eines gerade siebenjährigen Jungen in den Vordergrund, und dieses Bild war so deutlich, sein Lachen so vorbehaltlos glücklich.
Rössler betrachtete sie eine Weile stumm, dann hob er den Arm und sah auf seine Uhr. »Es ist Mittagessenszeit. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich werde uns was zu essen besorgen, Sie legen sich in der Zeit einfach hier auf das Bett und denken in Ruhe über alles nach. Und wenn Sie der Meinung sind, Sie sollten diese Rosie anrufen, werde ich Sie nicht daran hindern können. Ich bitte Sie nur, sich noch einmal gut zu überlegen, was dieser Anruf auch für Sie bedeuten könnte, falls
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