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Der Trakt

Der Trakt

Titel: Der Trakt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Strobel
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nervös.
    Er nickte. »Möchten Sie was trinken?«
    Sibylle schüttelte den Kopf, obwohl ihr ein kaltes Getränk gutgetan hätte. Rössler zog einen der beiden Stühle heran, die hinter ihm an einer schmalen Holzplatte standen, die wohl als Schreibtisch dienen sollte. Er setzte sich verkehrt herum auf den Stuhl, als wolle er darauf durch das Zimmer reiten, und legte die Unterarme auf der Kante der niedrigen Rückenlehne ab. Einige Sekunden lang drehte er die Hände hin und her und betrachtete seine Fingernägel, dann atmete er tief durch und sah sie an.
    »Bitte lassen Sie mich ein bisschen ausholen, bevor ich auf Ihren Sohn zu sprechen komme. Ich –«
    »Nein«, unterbrach Sibylle ihn. »Alles andere können Sie mir später erzählen. Erst möchte ich jetzt wissen, was Sie über Lukas wissen.«
    »Bitte«, versuchte er es noch einmal, »glauben Sie mir, es ist wichtig, dass Sie die Hintergründe kennen.«
    Sibylle stand mit einem Ruck auf und sah ihn kampfeslustig an. »Sie haben mich lange genug hingehalten. Also: Was wissen Sie über mein Kind? Geht es Lukas gut?«
    Er schien mit sich zu ringen, doch schließlich gab er nach: »Also gut, aber Sie müssen mir etwas versprechen. Sie werden danach nicht gehen. Es ist wichtig, dass Sie sich anhören, was ich weiß, und mir anschließend erzählen, was Sie bisher über Ihre Situation wissen.«
    »Gut, und jetzt reden Sie.« Sie spürte, dass ihre Knie mit einem Mal zitterten, und setzte sich wieder auf das Bett.
    Rössler warf noch einen Blick auf seine Fingernägel und sagte dann: »Es wird sich für Sie ungeheuerlich und absolut irrsinnig anhören, das ist mir völlig klar, und ich kann Ihnen auch gleich erklären, warum das so ist. Trotzdem ist das, was ich Ihnen jetzt sage, die Wahrheit. Sibylle … Also, Lukas ist … – Ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, dass Sie, genau wie meine Schwester, kein Kind haben. Sie haben nie eins gehabt.«

22
    Rösslers Worte trafen sie wie ein Schlag, aber es war ein Schlag, auf den sie vorbereitet gewesen war, wie ihr in diesem Moment klarwurde.
    Erst jetzt, wo es tatsächlich ausgesprochen war, wusste sie, dass sie die ganze Zeit damit gerechnet hatte, dass er genau das sagen würde. Er konnte gar nichts anderes über Lukas wissen – glauben zu wissen – als das.
    Seine Schwester Isabelle hatte auch plötzlich nach einem Kind gesucht, nach ihrem Kind, das es nicht gab. Da er davon ausging, dass man Sibylle das Gleiche angetan hatte wie seiner Schwester, lag es auf der Hand, was er dachte. Denken musste. Sie hatte es im Grunde schon am Vortag gewusst, in dem Moment, als er ihr von seiner Schwester erzählt hatte. Sie hatte es wohl verdrängt.
    Sie sah an ihm vorbei auf die Zimmerwand. Die beigefarbene, schmucklose Tapete wirkte mit einem Mal nicht mehr nur einfach, sie wirkte trist.
    »Soll ich Ihnen jetzt erklären, warum Sie glauben, einen Sohn zu haben?«, fragte Rössler.
    Ihr Blick richtete sich wieder auf ihn, suchte in seinen Augen, ohne zu wissen, wonach.
    »Es ist seltsam«, sagte sie und registrierte nebenbei, wie emotionslos ihre Stimme sich selbst für sie anhörte.
    »Sie haben mir gerade gesagt, dass mein Kind Ihrer Meinung nach nicht existent ist. So, wie mir das in den letzten beiden Tagen schon einige andere vor Ihnen gesagt haben. Sogar mein Mann und meine beste Freundin. Das ist ungefähr so abwegig, als würde ich Ihnen jetzt ernsthaft klarmachen wollen, dass Sie schon lange tot sind und es nur noch nicht mitbekommen haben. Können Sie sich das vorstellen? Nein, das können Sie nicht, verdammt! Hören Sie, ich hab versucht, denen klarzumachen, dass man sich das gesamte Leben eines Kindes doch nicht einfach einbilden kann wie … wie eine Krankheit. Dass es unmöglich ist, sich an jede einzelne Minute aus sieben gemeinsamen Jahren erinnern zu können, wenn es diese sieben Jahre gar nicht gegeben hat. Kapieren Sie das, Herr Rössler?«
    Sie horchte einen Moment in sich hinein. Es fiel ihr unendlich schwer, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagen wollte.
    »Ich müsste jetzt eigentlich weinen, oder?« Wieder machte sie eine kurze Pause, in der sie nicht tatsächlich eine Antwort auf ihre Frage erwartete, sondern darüber nachdachte, was sie eigentlich sagen wollte.
    Rössler sah sie nur unverwandt an.
    »Jedenfalls hat mir noch niemand zuvor das Angebot gemacht, mir zu erklären, warum ich mir meinen Sohn angeblich nur einbilde. Ja, doch, erzählen Sie mir, was Sie denken. Ich bin sehr

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