Der Trakt
vermutlich fast jeder Polizist in Regensburg wissen musste, wer sie war. Am liebsten hätte sie sofort wieder aufgelegt, aber sie musste sich mit diesem Kommissar unterhalten, wenn sie wenigstens eine kleine Chance haben wollte.
»Hören Sie«, sagte sie unter Aufbietung aller Willenskraft, »ich möchte bitte mit Kommissar Wittschorek sprechen, mit niemandem sonst. Ist er da oder nicht?«
»Er ist unterwegs«, antwortete der Beamte. »Aber bleiben Sie bitte dran, ich versuche, ihn zu erreichen.«
Die klassische Musik der Warteschleife war für Sibylles Empfinden viel zu laut. Sie hielt den Telefonhörer einige Zentimeter vom Ohr weg, doch schon wenige Sekunden später hörte die Musik abrupt auf und wurde ersetzt durch mehrfaches Knacken, woraufhin Sibylle den Hörer schnell wieder ans Ohr presste.
»Wittschorek?«
Die Hintergrundgeräusche ließen darauf schließen, dass er irgendwo im Freien an einer Straße stand. Sie musste sich konzentrieren, um ihn zu verstehen.
»Sibylle Aurich.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich weiß, dass Sie denken, ich wäre nicht ich selbst, sondern eine andere Frau, aber ich hoffe, Sie geben mir trotzdem eine Chance, Ihnen zu erklären, was ich herausgefunden habe.«
Sibylle merkte, dass sie viel zu schnell gesprochen hatte.
»Von wo aus rufen Sie an?«
»Ich dachte, das kann die Polizei innerhalb von ein paar Sekunden herausfinden?«
»So einfach geht das nicht. Außerdem bin ich nicht in der Dienststelle.«
»Ist Ihr unfreundlicher Kollege auch in der Nähe?«
»Nein, warum möchten Sie das wissen?«
»Ich habe Sie vorhin gesehen.«
»Ja, das denke ich mir. Sie hatten es ja auch plötzlich furchtbar eilig.«
Er sagte es im Plauderton und schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. Sibylle stutzte und wunderte sich über seine Reaktion.
»Warum haben Sie mich nicht daran gehindert?«
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. »Ich drücke es mal so aus: Es gibt Indizien, dass Sie zumindest in manchen Punkten die Wahrheit gesagt haben könnten.«
»Indizien? Welche Indizien?«
Wieder entstand eine Pause, und Sibylle nahm an, dass er darüber nachdachte, was er ihr sagen konnte.
»Zum Beispiel dieser Krankenhauskeller. Der Boden war absolut staubfrei und offensichtlich frisch geputzt. Seltsam für einen Kellerraum, der nur ab und zu betreten wird. Aber man hat sich mit dem Putzen wohl sehr beeilt, in einer Ecke hab ich nämlich ein kleines Klümpchen gefunden. Unser Labor meint, dass es sich um Reste eines speziellen Klebstoffes handelt. Klebstoff, den man in Krankenhäusern zum Beispiel dazu verwendet, Elektroden an der Kopfhaut zu befestigen.«
Sibylles Herz begann zu rasen. »Das heißt, Sie glauben mir? Dass ich dort in einem Krankenhausbett aufgewacht bin und an einem Monitor –«
»Das heißt, ich halte es für möglich, dass in diesem Kellerraum noch kurz bevor wir dort ankamen, jemand lag, der an ein medizinisches Gerät angeschlossen war.«
»Aber Sie glauben noch immer nicht, dass ich Sibylle Aurich bin, oder?«
Zwei, drei Sekunden vergingen.
»Ich bin Polizist und habe gelernt, mich an Fakten zu halten. Keine Ahnung, was medizinisch innerhalb von zwei Monaten möglich ist, aber Sie sehen definitiv nicht aus wie die Sibylle Aurich, die ich auf verschiedenen Fotos gesehen habe.«
»Und wenn die Fotos gefälscht sind?«
»Hm … und was ist dann mit Ihrem Mann, der Sie nicht erkennt?«
»Vielleicht hat er selbst die Fotos manipuliert?«
»Ihr eigener Mann? Und Ihre Freundin Elke?«
»Ich … ich befürchte, dass sie, also Elke, dass Elke und Hannes unter einer Decke stecken.«
»Aber weswegen?«
Ihr fiel das Polizeiaufgebot vor dem Haus ein, in dem Elke wohnte.
»Eine Frage: Wer hat Sie darüber informiert, dass ich in Elkes Wohnung bin?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen«, antwortete er ohne Zögern, »anonymer Anruf – aber … es war eine Frauenstimme.«
»Elke?«
»Wir schließen aus, dass es Frau Berheimer war. Sie sagte, sie hätte uns nicht verständigt, und die Stimme am Telefon klang auch nicht wie die von Ihrer Freundin.«
Rosie? Rosie.
Sibylle fühlte sich, als hätte man gerade ein Stück aus ihr herausgerissen.
Es kann nur Rosie gewesen sein.
Rössler hatte also tatsächlich recht mit seinen Vermutungen.
»Hallo? Sind Sie noch dran?«
Sibylle fuhr zusammen. »Ja, ich … ich möchte nicht mehr weglaufen. Ich bin in einem kleinen Hotel, in der Altstadt, nicht weit vom Haidplatz
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