Der Trakt
nach unten alles dicht abgeschlossen.
Ruhig lag sie da und horchte auf ihren Atem, der sich nach den hastigen Bewegungen nur langsam wieder beruhigte.
Rosies Frage vom Vortag fiel ihr ein. Bevor sie zu Else ins Altenheim aufgebrochen waren.
›Wann warst du zum letzten Mal zusammen mit deinem Sohn bei deiner Schwiegermutter?‹
Sie hatte es nicht geschafft, sich an eine Szene mit Lukas und Else zu erinnern.
Schneerauschen.
Und was ist mit Elke? Es muss doch viele Gelegenheiten gegeben haben, in denen ich Lukas zu meiner besten Freundin mitgenommen habe?
Sibylle durchforstete ihr Gedächtnis. Sie fand keine einzige.
Gibt es außer meiner Erinnerung an Lukas überhaupt einen Beweis für seine Existenz? Nur eine einzige Situation in meinen Erinnerungen, irgendeinen besonderen Tag, an dem Lukas mit irgendwem, Familie oder Bekannte … –
Und wieder –
Schneerauschen.
Ohne Vorwarnung wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Das, was Christian Rössler ihr erzählt hatte, was ihr mehr Angst machte, als sie jemals zuvor in ihrem Leben empfunden hatte, schien tatsächlich wahr zu sein. Man hatte ihr künstliche Erinnerungen an einen Sohn eingepflanzt, den sie nie gehabt hatte.
Nie.
Sie, Sibylle Aurich, hatte sich ihr Kind die ganze Zeit nur eingebildet.
23
Ein polterndes Geräusch ließ sie zusammenfahren. Sie wusste nicht, wie lange sie so auf dem Bett gelegen hatte, eng in die Decke eingewickelt.
Das Poltern schien vom Flur gekommen zu sein.
Als ein Kinderlachen und die mahnenden Worte einer Frau folgten, ließ sie den Kopf wieder auf das Kissen sinken.
Wie geht’s jetzt weiter? Soll ich zusammen mit Christian Rössler nach den Leuten suchen, die mir das angetan haben? Und was, wenn wir sie tatsächlich finden würden?
Und was macht das alles noch für einen Sinn, jetzt, wo ich akzeptieren muss, dass das, was ich für meinen Lebensmittelpunkt gehalten habe, nichts war als eine Illusion?
Sie wälzte sich unter der Decke.
Aber irgendetwas muss ich tun, ich werde mich nicht damit abfinden, dass ich nicht weiß, welche Erinnerungen echt sind und welche nur das Produkt einer abartigen Phantasie. Aber wer soll mir glauben, dass –? Beweise, ich brauche einen Beweis dafür, dass Lukas tatsächlich nur in meinem Kopf existiert. Gewissheit, so oder so – sonst werde ich für den Rest meines Lebens keine Ruhe mehr finden. Gewissheit.
Sibylle schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Ihr Entschluss stand fest. Sie musste diesen Kommissar anrufen, der sie schon zweimal hatte entkommen lassen. Wenn sie überhaupt eine Chance haben wollte, dann nur über ihn.
Sie stand auf und ging zum Telefon, wählte wieder die Nummer der Auskunft. Dieses Mal meldete sich ein Mann mit einer jungen, sympathischen Stimme. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie nicht wusste, mit wem sie eigentlich verbunden werden wollte. »Ähm, guten Tag …« Sie hatte schon wieder den Namen des Kommissars vergessen und wusste nicht einmal, wo seine Dienststelle war. Der Name hatte irgendwie polnisch geklungen. Und er hatte mit einem W begonnen. »Entschuldigen Sie, ich möchte …«
»Ja?«
Der andere, dieses Ekelpaket, hieß Oliver Grohe,
das
wusste sie noch.
Polnisch, polnisch … Denk nach … irgendwas mit W …
Nachdem sie gedanklich einige Kombinationen durchgegangen war, fiel er ihr endlich wieder ein. »Ja! Sibylle Aurich. Können Sie mich bitte mit der Polizei in Regensburg verbinden?«
»Möchten Sie mit der Notrufnummer verbunden werden oder mit einer Polizeiinspektion?«
»Nein, nein, es handelt sich nicht um einen Notfall, ich muss mit einem bestimmten Beamten der Kriminalpolizei sprechen.«
»Soll ich Sie direkt mit der Kriminalpolizeiinspektion Regensburg verbinden?«
»Gibt es nur eine oder mehrere?«
»Soweit ich es hier sehen kann, gibt es nur eine in der Bajuwarenstraße.«
»Dann verbinden Sie mich bitte dorthin, danke.«
Während sie wartete, wunderte sie sich, wie ruhig sie in diesem Moment war. Immerhin rief sie als polizeilich Gesuchte gerade bei der Polizei an.
Es wurde abgehoben, und es meldete sich ein Mann, der sich als Kriminalobermeister Gorges vorstellte.
»Guten Tag«, sagte sie freundlich. »Mein Name ist Sibylle Aurich. Ich möchte bitte mit Kommissar Wittschorek sprechen.«
Einen Moment lang herrschte Stille, dann räusperte der Mann sich: »Wer spricht da bitte? Frau Aurich? Sibylle Aurich?«
Erst war Sibylle verwirrt, doch dann dämmerte ihr, dass inzwischen
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