Der Trakt
ich recht habe.«
Sibylle nickte. Hunger hatte sie zwar keinen, aber sie war ihm dankbar dafür, dass er sie eine Weile alleine lassen wollte. Sie sah ihm nach, als er sich umdrehte und das Zimmer verließ.
Mit hämmerndem Herzen starrte sie auf die Tür, so lange, bis sie dachte, er müsse nun im Aufzug sein. Dann war sie mit ein paar schnellen Schritten an der Tür, drehte den Knauf um und zog. Sie ließ sich problemlos öffnen.
Sie ging zu dem Bett, setzte sich und überlegte, ob sie die Schuhe ausziehen sollte. Noch immer trug sie die türkisfarbenen Mokassins, die Rosie ihr am Tag zuvor gegeben hatte. Sie sah sich nach dem Telefon um. Es stand auf dem Nachttischchen neben dem anderen Bett, so dass sie wieder aufstehen musste.
Den Zettel mit Rosies Nummer hatte sie leider nicht mehr. Die Frau von der Auskunft fragte, ob sie gleich mit dem Teilnehmer verbunden werden wolle, nachdem sie ihr den Namen und den Ort gesagt hatte. Den Straßennamen wusste sie nicht, aber es gab zum Glück nur eine Rosemarie Wengler in Burgweinting.
Als die Nummer gewählt war und Sibylle das monotone Rufzeichen hörte, ließ sie es aber nur zweimal klingeln und legte dann schnell auf.
Was mache ich da eigentlich? Was soll ich Rosie denn überhaupt sagen? ›Du, sag mal, liebe Rosie, kann es sein, dass du mit den Verbrechern unter einer Decke steckst, die mir am Kopf herumexperimentiert haben? Die schuld daran sind, dass ich langsam, aber sicher durchdrehte, weil dieser Junge … –‹
Sibylle schaffte es nicht einmal, den Satz bis zum Ende zu denken.
Sie ging zu dem Bett zurück und legte sich auf den Rücken. Die Zimmerdecke war direkt über ihr von zwei dünnen, gezackten Rissen durchzogen, an denen entlang die weiße Farbe hier und da stückchenweise abgeblättert war. Doch die Risse verschwanden innerhalb kürzester Zeit, sie verblassten und wurden schließlich ganz überlagert von dem Bild eines Kreißsaals, in dem sie lag. In dem man ihr ein blutverschmiertes Baby auf den Bauch legte, das noch über die Nabelschnur mit ihr verbunden war. Sibylle nahm diesen einzigartigen Geruch in sich auf, den ein kleiner Mensch verströmt, der gerade das Licht dieser Welt erblickt hat. Sie sah ihr Zimmer auf der gynäkologischen Station, sah Dr. Blesius, einen großen, hageren Mann, der neben ihrem Bett steht und ihr sagt, Lukas hat einen etwas zu niedrigen Blutzuckerspiegel, nichts, was Besorgnis erregend wäre, aber er will auf Nummer sicher gehen und ihn zwei Tage lang beobachten, auf der Säuglingsstation der angeschlossenen Poliklinik, weil bei ihr im Zimmer nicht die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Zwei lange Tage liegt er verkabelt in einer Art Glasbettchen, ernährt über einen Schlauch in der winzigen Nase. Sie fühlt sich so alleine, so … –
Warum? Warum verlassen? Wo war Hannes?
Sie überlegte angestrengt, versuchte, sich an eine Szene zu erinnern, in der er sie besucht, sie getröstet hatte.
War er überhaupt bei der Geburt dabei?
Mit einem Ruck setzte sie sich auf.
Der Arzt, die Hebamme, zwei Pflegerinnen … Nein, er war ganz sicher nicht dabei. Aber warum nicht? Wann haben wir darüber gesprochen, dass er die Geburt seines Sohnes nicht miterleben wollte? Wann hab ich Hannes überhaupt gesagt, dass ich schwanger bin? Und wie hat er darauf reagiert?
Schneerauschen.
Sibylle spürte, dass sich ein unangenehm kribbelnder Schweißfilm auf ihrer Stirn bildete, und tief in ihrem Inneren kroch die Ahnung einer Angst hoch, deren elementares Ausmaß die Grenzen ihrer Vorstellungskraft überschritt.
Mit einem Mal fühlte sie sich schutzlos, ihr war kalt.
Mit schnellen Bewegungen streifte sie die Mokassins von den Füßen und zog die Bettdecke unter sich heraus, legte sich auf die Seite, zog die Knie bis fast an die Brust heran und deckte sich bis zu den Ohren zu, wobei sie darauf achtete, dass zwischen ihrem Hals und der Decke kein kleinster Spalt offen blieb. Ihre Hände knautschten dazu die Decke von innen unter ihrem Kinn fest zusammen. Schon als Kind hatte sie sich auf diese Art in ihrem Bett eingeigelt, wenn sie Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte. Das Bett wurde zu ihrem Nest, die Decke zu einem Kokon, der sie nach außen hin gegen alles Böse abschirmte.
Um den Schutz noch perfekter zu machen, hob sie die Beine mit Schwung so weit an, dass das untere Ende der Decke unter ihren Füßen einklappte, die sie dann auf diesem eingeschlagenen Teil ablegte. So klemmte sie die Decke fest. Nun war auch
Weitere Kostenlose Bücher