Der Trakt
angeblich auch nicht gibt«, fuhr sie fort. »Es liegt doch wohl auf der Hand, dass es da Gemeinsamkeiten gibt, oder? Und die beiden erwähnen das mit keinem Wort? Und dieser Grohe tut sogar so, als hätte er etwas so Verrücktes wie meine Geschichte noch nie gehört. Das ist doch nicht normal, oder?«
»Wittschorek war vor vier Tagen nicht dabei«, sagte Rössler und sah dabei mit glasigem Blick an ihr vorbei. »Nur Oberkommissar Grohe.«
»Der wird doch Wittschorek davon erzählt haben, schließlich arbeiten die beiden zusammen.«
Rössler wiegte den Kopf hin und her. »Vielleicht ist Wittschorek deswegen eher bereit, dir zu glauben. Er sieht Zusammenhänge, die Grohe offensichtlich nicht erkennen kann.«
»Oder nicht erkennen will«, ergänzte Sibylle. Sie wurde sich wieder der Leere bewusst, die sie in den vergangenen 24 Stunden schon so oft in sich gespürt hatte. Als hätte man sie auf einem anderen Planeten abgesetzt, dessen Bewohner keinerlei menschliche Eigenschaften hatten. Wohin auch immer sie sich wendete, was sie auch tat, es gab kein kleinstes Stück in dieser Welt, das ein Gefühl der Sicherheit, der Geborgenheit in ihr erzeugte.
Sie sah Rössler in die Augen, aber obwohl sie ihm mittlerweile ein Stück weit vertraute, konnte sie auch darin keinen wirklichen Halt finden.
»Wie auch immer, ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll.«
Rössler lehnte sich zurück und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch die Haare. »Ich schlage vor, du erzählst mir einfach von dir. Alle wichtigen Dinge über deine Familie, Freunde, Arbeit. Einfach alles, was uns einen Hinweis darauf geben könnte, warum diese Typen ausgerechnet dich ausgesucht haben.«
Sibylle zögerte.
Wieso redet er nur von mir?
»Aber es geht doch auch um deine Schwester, oder?«
»Ja, eben. Es muss eine Gemeinsamkeit geben, irgendetwas.«
»Hmm. Ja.«
Rössler stand auf und ging zu der Tasche, die neben Sibylle auf dem Bett stand. Er öffnete den Reißverschluss und kramte darin herum, bis er schließlich etwas herauszog, das Sibylle zuerst nicht erkennen konnte. Erst, als er es neben sie aufs Bett legte und einen Knopf drückte, erkannte sie das Diktiergerät.
»Was soll das?«, fragte sie irritiert.
»Ich möchte vermeiden, dass ich etwas überhöre. Meist erkennt man wichtige Dinge erst, wenn man sie mehrfach gehört hat.«
Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, dass alles, was sie sagte, in dem Gerät gespeichert wurde. Andererseits sah sie aber auch ein, dass es ihr nicht schaden konnte. Schließlich verriet sie keine Staatsgeheimnisse.
»Ich denke, was du erzählen wirst, ist einfach zu … –«, setzte Rössler zu einer weiteren Erklärung an, aber Sibylle winkte ab. »Schon gut. Ist ja auch in meinem Sinne.«
»Okay. Also, wann und wo bist du geboren?«
Sie überlegte, was ihr Geburtsdatum wohl mit ihrer Entführung zu tun haben sollte, sagte aber: »Elfter Dezember 1973 in Regensburg. Meine Mutter war Margarethe Selzer, geborene Zimmermann, mein Vater hieß Josef Selzer. Geschwister habe ich keine.« Sie stockte, denn sie empfand es als seltsam, keine Geschwister zu haben. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie Traurigkeit bei dem Gedanken, keinen großen Bruder gehabt zu haben, der sie beschützte, und keine Schwester, der sie ihre Sorgen erzählen konnte. Aber es war mehr als Traurigkeit, viel mehr. Es war … Trauer. Als wären die Geschwister, die sie nie hatte, gerade gestorben.
Sibylle spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Wieder bohrte sich die Faust der Angst gnadenlos in sie hinein, die Angst davor, den Verstand zu verlieren, und mit einem Mal war es ihr nicht mehr länger möglich, sich zusammenzureißen. Sie verbarg das Gesicht in ihren Händen und konnte es nicht mehr länger unterdrücken, dass ihre Gefühle sich einen Weg aus ihr herausbahnten. Mit aller ihr zur Verfügung stehenden Kraft schrie sie ihre Verzweiflung gegen die Handflächen. Sie schrie und schrie und konnte einfach nicht damit aufhören. Fest drückte sie die Oberarme an den Körper, um auch noch das letzte Quäntchen Luft aus ihren Lungen in diesen Schrei zu pressen, der nun schon kein Schrei mehr war, sondern nur noch ein heiseres Röcheln, und sie machte weiter, sog gierig die Luft ein und schrie sie wieder gegen die vorgehaltenen Hände.
Erst als ein Arm sich um ihre Schultern legte und sie zur Seite zog, als eine Hand ihren Kopf an eine Brust drückte und dann immer wieder sanft über ihre Haare
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