Der Traum & Das Spiel der MacKenzies (German Edition)
tatsächlich gefoppt, ausgerechnet er, ein Mann, den die gefährlichsten Leute der Welt zu Recht fürchteten! Er wurde umarmt und geküsst, bemuttert und angebrüllt und … geliebt, so als wäre er wie jeder andere. Dabei war ihm stets gegenwärtig, dass er nicht war wie andere. Und dennoch zog es ihn zurück, immer und immer wieder, wie magnetisch angezogen von gerade den Dingen, die ihn so irritierten – und nach denen er sich tief in seinem Inneren doch sehnte. Liebe war ein riskantes Unterfangen, er hatte es früh und auf die harte Tour erfahren. Er konnte sich auf niemanden außer auf sich selbst verlassen.
Die Tatsache, dass er bisher überlebt hatte, betrachtete Chanceals Beweis für seine Zähigkeit und seine Intelligenz. Weder wusste er, wie alt er war, noch wo sein Geburtsort lag. Auch den Namen kannte er nicht, den er als Kind getragen hatte – oder ob man ihm überhaupt einen Namen gegeben hatte. Er konnte sich nicht an eine Mutter oder einen Vater erinnern, da war niemand, der sich um ihn gekümmert hatte. Viele Leute verdrängten und vergaßen ihre Kindheit einfach, aber Chance konnte sich nicht einmal damit trösten. Dafür gab es zu viele Episoden, die immer wieder und nur allzu deutlich vor sein geistiges Auge traten.
Er sah noch vor sich, wie er Essen stahl, kaum dass er groß genug war, um auf Zehenspitzen die Obstauslagen im Supermarkt erreichen zu können. Da Chance mittlerweile mit so vielen Kindern verschiedenen Alters zu tun und so Vergleichsmöglichkeiten hatte, schätzte er, dass er damals ungefähr drei gewesen sein musste … wenn nicht jünger.
Er erinnerte sich daran, dass er bei warmem Wetter draußen in Straßengräben geschlafen hatte. War es kalt oder fiel Regen, suchte er Schutz in Scheunen, Lagerhallen, Ställen. Kleidung hatte er gestohlen, manchmal, indem er sie einem allein im Garten spielenden Jungen einfach vom Leib zog. Chance war immer stärker als andere Jungen seiner Statur gewesen, einfach aufgrund der körperlichen Anstrengung, am Leben zu bleiben – und er wusste, wie man kämpfte, aus demselben Grund.
Einmal hatte sich ihm ein streunender Hund angeschlossen, ein schwarz-weißer Mischling, der tagsüber neben ihm hertrottete und sich nachts neben ihm zusammenrollte. Chance erinnerte sich daran, wie dankbar er für die Wärme gewesen war. Doch er wusste auch noch, wie er an einem Tag nach einem Stück Fleisch griff, das er aus den Tonnen vor einem Restaurant gestohlen hatte, und der Hund ihn biss. Noch heute waren die Narben auf seiner linken Hand sichtbar. Der Hund hatte das Fleisch gefressen, und Chance war einen weiterenTag hungrig geblieben. Schon damals verübelte er es dem Hund nicht, schließlich hatte das Tier ebensolchen Hunger gehabt. Doch danach hatte Chance den Hund verscheucht. Es war schwierig genug, für sich selbst etwas zu essen zu stehlen, ohne auch noch einen Hund versorgen zu müssen. Außerdem wusste er eines ganz genau: Wenn es ums Überleben ging, war sich jeder selbst der Nächste. Diese Lektion mochte er im Alter von fünf Jahren gelernt haben, aber er hatte sie sehr schnell verinnerlicht.
Dieses erzwungene Überlebenstraining sowohl auf dem Land als auch in der Stadt bildete die Grundlage dafür, dass er heute so gut war in dem, was er tat. Also hatte seine Kindheit wohl doch auch Gutes bewirkt. Trotzdem … er würde keinem Hund das Gleiche wünschen, nicht einmal dem Köter, der ihn gebissen hatte.
Sein wirkliches Leben hatte an dem Tag begonnen, als Mary Mackenzie ihn am Straßenrand fand, entkräftet von einer unbehandelten Grippe, die zu einer Lungenentzündung geführt hatte. Viel von den darauffolgenden Tagen wusste er nicht mehr, dazu war er zu krank gewesen, nur, dass er in einem Krankenhaus gelegen hatte. Und an die Angst, an die erinnerte er sich. Denn er war dem System in die Hände gefallen, und das hieß, dass er effektiv ein Gefangener war. Natürlich sah jeder ihm an, dass er minderjährig war, noch dazu ohne Papiere. Das würde automatisch das Jugendamt auf die Bildfläche rufen. Sein ganzes Leben hatte er sorgsam darauf geachtet, gerade eine solche Situation zu vermeiden. Er hatte versucht, Pläne für eine Flucht auszuarbeiten, doch seine Gedanken waren wirr und trübe und sein Körper viel zu schwach gewesen.
Woran er sich jedoch erinnerte … da war dieser Engel mit warmen grau-blauen Augen und hellbraunem seidigen Haar, mit kühlen Händen und einer sanften Stimme. Und neben ihr stand ein großer dunkler Mann,
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