Der Traum der Hebamme / Roman
Gegner nicht reizen, sondern einschüchtern. Sich seine tiefsten Sorgen zunutze machen, an sein Gewissen rühren. Denn Dietrich besaß eines, nach allem, was er von ihm wusste.
»Warum lehnt der Markgraf den Entscheidungskampf ab?«, rief Norbert hinunter.
Elmar lachte höhnisch. »Denkt Ihr, er fürchtet sich vor seinem kleinen Bruder? Die Sache ist längst entschieden. Ihr solltet auf der Stelle das Tor öffnen und die Burg lebend verlassen, solange Ihr noch könnt. Mit jedem Tag, den Ihr zögert, verschlechtern sich die Kapitulationsbedingungen – und zwar erheblich.«
Ohne ein Wort zu sagen, wandte Dietrich Elmar den Rücken zu und bedeutete seinen Männern, ihm zu folgen. Sie achteten darauf, dass der Feind Lukas nicht zu sehen bekam. Dicht hintereinander stiegen sie die Treppen des Wehrganges hinab.
»Damit ist es entschieden«, erklärte Dietrich. »Lukas und ich reiten sofort nach Eisenach. Nein, niemand sonst«, kam er Einwänden zuvor. »Nur zwei, das macht uns schneller und unauffälliger. Und auf der Burg wird jeder Kämpfer gebraucht. Soll mein Bruder derweil denken, ich sitze hier und zaudere. Haltet ihn hin, wenn er noch einmal Boten schickt, schindet Zeit. Wenn Gott uns beisteht und alles wie geplant läuft, bin ich am sechsten Tag zurück. Haltet nach Süden Ausschau und wartet auf mein Feuerzeichen. Dann greifen wir das feindliche Lager von zwei Seiten aus an.«
Norbert und seine Söhne nickten zustimmend. »Der geheime Pfad ist frei«, sagte er. »Ein halbes Dutzend Männer steht bereit, Euch Geleitschutz zu geben.«
Dietrich lehnte auch das ab. »Es muss genügen, wenn die Männer in einigem Abstand unterwegs sind, um Patrouillen aufzuhalten, bis wir den Ort verlassen haben.«
Dann wandte er sich Thomas zu. »Diese Ablenkung im gegnerischen Lager benötigen wir vielleicht gar nicht. Ich würde sie lieber in Sicherheit wiegen. Sollen sie denken, dass wir hier eingeschüchtert beieinanderhocken und uns nicht entschließen können, etwas zu unternehmen.«
»Damit werdet Ihr zwei von meinen Landsleuten eine wirklich große Enttäuschung bereiten«, sagte Thomas bedauernd. »Es sieht auch nicht aus wie ein Angriff, sondern wie ein bedauerlicher Zwischenfall natürlichen Ursprungs. Den ich ihnen von Herzen gönne.«
»Dann lasst hören!«, meinte Dietrich, der den Freibergern den Spaß nicht verderben wollte. Er hatte schon so eine Ahnung, wer die beiden Landsleute sein würden.
Richtig, auf Lukas’ Ruf kamen Kuno und Bertram, die ein Tuch fest um ein unförmiges Gebilde gewickelt hatten.
»Bienen, Hoheit«, verriet der schwarzhaarige Kuno mit unverhohlener Begeisterung. »Wir schleichen uns hinaus, klettern auf einen Baum in der Nähe des Lagers und werfen den Stock dann mitten hinein. Die werden ganz schön wütend sein – die Bienen, meine ich …«
»Und für eine Weile wird niemand Gelegenheit haben, Ausschau nach Euch zu halten«, versicherte Bertram.
Dietrich musterte die beiden Freiberger, die er gut genug kannte, um darauf zu vertrauen, dass sie sich aus dieser Sache heil herauswanden.
»Gut«, stimmte er zu. »Und wenn sich dabei Gelegenheit gibt, sucht nach Raimund von Muldental. Vielleicht braucht er Hilfe.«
Alle Aufgaben waren verteilt, die wichtigsten Dinge besprochen. Nun zählte jeder Augenblick. Die Pferde für Dietrich und Lukas waren gesattelt, einer der Männer der Vorhut hatte bereits Signal gegeben, dass der Pfad frei sei.
»Haltet die Stellung. Sechs Tage! Ich verlasse mich ganz auf Euch!«, sprach Dietrich eindringlich zur Norbert und Thomas.
Marthe trat zu ihnen; sie hatte für jeden der Reiter Proviant zusammengepackt, eine Leinenbahn zum Schlafen und was sie sonst noch brauchten. Ihnen blieb keine Zeit, nach Herbergen zu suchen, wenn sie rechtzeitig zurück sein wollten.
»Gott schütze Euch«, sagte sie. »Und geb, dass der Landgraf schnell handelt!«
Einem unbezwingbaren Impuls folgend, fiel sie Lukas um den Hals. Sie wusste, von der Frau eines Ritters wurde Beherrschung erwartet, wenn sie ihren Gemahl in die Ferne ziehen ließ, noch dazu, wenn Krieg bevorstand. Doch darin war sie noch nie gut gewesen.
Rasch löste sie sich wieder von ihm, um ihn nicht noch mehr bloßzustellen. Lukas lächelte ihr aufmunternd zu, und an der Art seines Lächelns erkannte sie, wie er sich einen Scherz darüber verkniff, dass er sich gern ausführlicher von ihr verabschieden würde. Das hatten sie bereits getan, was aber niemanden von den anderen etwas
Weitere Kostenlose Bücher