Der Traum der Hebamme / Roman
hatte.
Doch in ihren Augen entdeckte er eine verborgene Wehmut, die nichts mit der Beherrschtheit zu tun hatte, mit der sie die Beileidsbekundungen entgegennahm.
Trauerte sie im Herzen um ihren erstgeborenen Sohn? Oder darum, was aus ihm hätte werden können? Um die Jahre, die sie eingesperrt auf der Seußlitzer Burg hatte zubringen müssen?
Allein in der Kammer, sahen sich beide wortlos an. Am liebsten hätten sie einander umarmt, doch solche Gefühlsbekundungen waren in ihrer Familie unüblich.
Stattdessen platzte Dietrich heraus: »Soll ich tatsächlich zum Begräbnis meines Bruders reisen, obwohl jedermann weiß, dass wir jahrelang Krieg gegeneinander führten? Ganz gleich, wie ich mich dort verhalte – es wird mir alles vorgeworfen werden, entweder als Beleidigung oder als Heuchelei.«
Das musste er sich einfach von der Seele reden.
Sofort änderte sich Hedwigs Gesichtsausdruck. Sie richtete sich noch ein wenig auf, obwohl sie bereits sehr gerade saß, sah ihn streng an und erklärte in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete: »Du wirst zu dieser Beerdigung gehen! Du wirst dort deinem Bruder öffentlich alle seine Taten vergeben und dem Kloster reichlich Silber stiften, damit die Mönche für sein Seelenheil beten.«
Sie presste kurz die Lippen zusammen und strich sich über eine Augenbraue. Dann sagte sie etwas milder: »Keiner von uns kann tun und lassen, was er will. Wir werden argwöhnisch beobachtet. Dein Bruder hat in seiner Maßlosigkeit und Kriegstreiberei vielen Menschen großes Leid zugefügt und dem Ansehen unserer Familie geschadet. Dafür büßte er mit seinem Leben. Wir müssen jetzt gemeinsam auftreten, als Herrscher der Mark Meißen und Vertreter eines mächtigen Fürstengeschlechts: du, ich, Sophia und dein Vetter Konrad. Es darf keinerlei Zweifel geben, weder an unserem angestammten Recht auf das Land noch hinsichtlich des Patronatsrechts für das Kloster. Und wir sollten beide beten, dass Sophia ihrer Verantwortung gerecht wird. Sonst holt sich der Kaiser die Mark Meißen, wie er es schon mit Thüringen versucht hat, als Landgraf Ludwig starb.«
Bitternis zog über Dietrichs Gesicht. Ohne den Streit um Thüringen vor viereinhalb Jahren hätte er als Sohn des alten Markgrafen sofort Anspruch auf Land und Titel seines Vaters erhoben. Doch der Kaiser hatte damals deutlich gemacht, dass er das Erbrecht von einem Bruder auf den anderen nicht gelten lassen würde. Jetzt konnten sie nur hoffen, dass Sophia Albrecht noch nach dessen Tod einen Sohn gebar.
Mit einem flüchtigen Lächeln für ihren harten Tonfall um Verzeihung bittend, fuhr Hedwig fort: »Du warst damals in Outremer und hast es nicht miterlebt. Aber es hat die Grundfesten des Reiches erschüttert, als der Kaiser die Ludowinger entmachten und ihnen das Land nehmen wollte, über das sie herrschten, seit König Lothar vor mehr als hundertfünfzig Jahren das Amt der Thüringer Landgrafen schuf. Dein Schwiegervater wird ihm das nie vergeben. Und wir können seitdem unserer Sache auch nicht mehr sicher sein. Die Mark Meißen lockt Heinrich nicht weniger als Thüringen. Beides würde sich vorzüglich an das Pleißenland angliedern, das schon Friedrich von Staufen als Königsland beanspruchte.«
»Verzeiht mir, das war leichtfertig«, bat ihr Sohn, ohne seine Worte wirklich zu bereuen. »Natürlich werde ich tun, was von mir erwartet wird und meiner Herkunft entspricht.«
Er schenkte Hedwig und sich etwas zu trinken ein, denn sie hatten die Diener hinausgeschickt, um unbelauscht reden zu können.
Dann lehnte er sich gegen die Wand und sah seiner Mutter direkt in die Augen. »Manchmal habe ich es wirklich satt, nicht tun zu können, wonach mir der Sinn steht!«
Zum Beispiel nicht zu diesem Begräbnis, sondern auf den Meißner Burgberg zu reiten und die Markgrafschaft zu übernehmen. Oder die Frau zu lieben, die er wirklich begehrte.
»Ich weiß«, antwortete Hedwig leise. »Doch das können wir uns nicht erlauben – bei Strafe des Untergangs. Dein Bruder glaubte, das tun zu können, und brach einen Krieg mit dem Kaiser vom Zaun.«
Dietrich zwang sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Ihr seid jetzt frei. Was habt Ihr vor? Was kann ich tun, um Euch das Leben angenehmer zu machen? Ihr braucht wieder einen richtigen Hofstaat mit Leuten, denen Ihr vertraut. Oder wollt Ihr vielleicht eine Reise unternehmen?«
»Auf Reisen zu gehen wäre schön – noch einmal den Dom zu Quedlinburg oder den von Köln zu sehen,
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