Der Traum der Hebamme / Roman
tauglich. Haben wir uns zu viel vorgenommen mit dieser Reise?
Thomas hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war, bis sich sein aufgewühltes Inneres wieder so weit beruhigt hatte, dass er in den Garten treten und in die Sonne blinzeln konnte.
Ein Mann mit faltenzerfurchtem Gesicht in der Kleidung eines Laienbruders schlurfte ihm entgegen und fragte, ob er dem Gast behilflich sein könne.
Diesmal wunderte sich Thomas nicht, in seiner Sprache angesprochen zu werden, sondern freute sich darüber. Dieser Ort war offenkundig eine Art deutscher Insel in der Fremde. Er hoffte, dass seine Züge wieder gelassen wirkten, und fragte nach Bruder Notker.
»Der kahle Notker oder der junge?«, erkundigte sich der Laienbruder.
»Klein, dünn, mit einer schiefen Tonsur und kundig im Umgang mit Heilkräutern«, beschrieb Thomas den Gesuchten. Ganz jung war Notker acht Jahre nach ihrer ersten Begegnung nun nicht mehr, und er hoffte, dass der Mönch inzwischen nicht ganz kahl geworden war.
»Am ehesten findet Ihr ihn im oberen Krankensaal«, erklärte der Ältere und wies auf das Hospitalgebäude.
Voll gespannter Erwartung stieg Thomas die Treppe hinauf. Also lebte der Wegbegleiter auf dem qualvollen Marsch ins Heilige Land noch!
Sie hatten sich gegenseitig in schwersten Momenten das Leben gerettet. Und Notker, der Thomas anfangs viel zu schwach für die Strapazen der Reise schien, auf die ihn sein Abt zur Strafe für eine unerwünschte Frage geschickt hatte, schien unterwegs nicht nur zu bemerkenswerter Stärke, sondern auch zu seiner Bestimmung gefunden zu haben.
Der Krankensaal war – wie jener in Antiochia, in dem Thomas viele Wochen zugebracht hatte – hell, sauber und luftig. Vor den Fensteröffnungen hingen Tücher, um das grelle Sonnenlicht zu dämpfen.
Thomas starrte auf eine schmale Gestalt an einem der hintersten Krankenbetten. Sie strich eine Salbe auf die Hand des Kranken, murmelte ein Gebet und schlug ein Kreuz.
Still verharrte Thomas auf seinem Beobachterposten.
Die meisten Kranken im Saal schienen zu schlafen; ein nahe der Tür untergebrachter Mann mit einem Beinstumpf sah ihn misstrauisch an; fünf der zwölf Betten waren leer, aber mit sauberem Leinen bedeckt.
Nun richtete sich Bruder Notker auf und drehte sich um.
Interessiert sah er auf den Besucher am Eingang und ging ihm entgegen. Als er erkannte, wer dort stand, zog ein Strahlen über sein Gesicht, und seine gemessenen Schritte wurden schneller.
Eilig führte er den Besucher aus dem Krankensaal in den Gang und sagte dort voller Freude: »Ihr lebt! Und Gott hat Euch wieder hierhergeführt!«
»Und du lebst auch!«
Am liebsten hätte er den einstigen Gefährten umarmt. Aber Mönche waren angehalten, körperliche Nähe zu meiden. Deshalb hielt Thomas mitten in der Bewegung inne und betrachtete Notker, über das ganze Gesicht grinsend. »Jetzt sitzt sogar deine Tonsur gerade! Sie haben tatsächlich einen ordentlichen Mönch aus dir gemacht!«
Notker kicherte leise. »Ja, hier wird sehr darauf geachtet, dass alles ordentlich und gottgefällig zugeht.«
»Bist du glücklich? Hast du deine Aufgabe gefunden?«
»Das habe ich«, antwortete Notker fröhlich. »Ihr habt den Krankensaal gesehen. Hier können wir wirklich den Menschen helfen, ganz anders als damals in dem Notlager unter dem Segel, als wir weder Essen noch Arzneien hatten und Wind und Wetter ausgesetzt waren.« Sein Gesicht verdüsterte sich für einen Moment. Dann sagte er: »Ich darf hier nicht müßig herumstehen und schwatzen. Aber wenn Ihr wollt, begleitet mich in den Kräutergarten. Ich brauche frischen Lavendel und etwas Minze.«
Thomas folgte ihm bereitwillig.
»Nach der Eroberung Akkons verkaufte uns König Guido dieses Grundstück für fünfhundert Byzantiner und ein Pferd«, erzählte Notker voller Stolz, während sie die Treppen hinabstiegen. »Wir nennen uns Sankt-Marien-Hospital der Deutschen, nach dem gleichnamigen Hospital, das bis zum Fall Jerusalems in der Heiligen Stadt bestand. Der Papst stellte uns als deutsche Hospitalgemeinschaft für die Armen- und Krankenpflege unter seinen Schutz, ebenso Kaiser Heinrich.«
Sie hatten den Garten erreicht, der angelegt war wie der Garten des Klosters bei Nossen und auch einst Marthes Kräutergarten in Freiberg: reihenweise Hochbeete in Holzkästen. Die meisten Pflanzen kannte Thomas, aber einige waren ihm fremd. Neugierig roch er an den Blüten oder zerrieb ein Blatt.
»Lebt Eure heilkundige Mutter noch?«,
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