Der Traum der Hebamme / Roman
erkundigte sich Notker.
Thomas bejahte; zumindest hoffte er das.
Der Mönch legte das Kräutermesser beiseite, mit dem er einige Minzestengel abgeschnitten hatte, und zog etwas sorgsam in Leinen Eingeschlagenes hervor, das auf dem Boden seines runden Weidenkorbes lag.
Andächtig wickelte er es aus: es war ein Büchlein voller Zeichnungen und mit lateinischer Schrift zwischen den Bildern. »Unser Vorsteher ist ein sehr weiser Mann. Er gestattete mir, dass ich Rat bei den sarazenischen Gelehrten und sogar bei den jüdischen einhole, was die hiesigen Heilpflanzen und ihre Verwendung betrifft.«
Er schlug diese oder jene Seite auf, erklärte Thomas, wie man mit Mohnsaft und Schwämmen Patienten vor einem blutigen Schnitt in tiefen Schlaf versetzen konnte, welche Mittel die Einheimischen anwandten, um das Leiden der Leprösen zu mildern, und mit welchen Pflanzen sie eitrige Wunden zum Abheilen brachten.
Beinahe schüchtern fragte Thomas, ob er das kostbare Buch nehmen durfte, wischte sich die Hände ab und blätterte vorsichtig darin. Notker zupfte inzwischen Lavendelblüten von den großen Büschen, um sich nicht Müßiggang vorwerfen zu lassen, und holte dann Wasser von einem zierlichen Brunnen, um die Pflanzen zu gießen, die mehr Feuchtigkeit brauchten.
Fasziniert betrachtete Thomas die detailreichen und genauen Zeichnungen. Wenn Notker sie alle selbst angefertigt hatte, besaß er ein großes Talent dafür – und eine genaue Beobachtungsgabe.
Zu seinem großen Bedauern konnte er die lateinischen Erklärungen nicht lesen.
»Eure Brüder sollten Euch im Skriptorium dieses Wunderwerk wieder und wieder abschreiben lassen«, brachte er staunend hervor. »Wie viele Leben könnten gerettet werden, wie viele Kranke geheilt, wenn dieses Wissen jedermann zugänglich wäre!«
Notker lächelte, und diesmal war es sein Lächeln, das schief wirkte, nachdem die Tonsur endlich gerade saß.
»Vielleicht beschließt ja unser Vorsteher, den Bruder in der Schreibstube damit zu beauftragen. Ich bin hier genau am richtigen Platz, wenn ich mich um die Kranken und um den Kräutergarten kümmere, so wie früher in meinem Kloster. Nur dass ich hier viel besser helfen kann. Ich glaube, deshalb hat Gott mich auf diese lange und beschwerliche Reise geschickt. Also sollte ich mein Bestes geben, die Aufgaben in aller Demut und mit aller Kraft zu erfüllen, die Er mir stellt.«
Er ist glücklich und hat seinen Platz gefunden, dachte Thomas angesichts des kleinen, nun aber braungebrannten und gar nicht mehr unsicher und schwächlich wirkenden Mönches. Er freute sich mit ihm, und er beneidete ihn. Es war kein böser, giftiger Neid, sondern eher der Wunsch, hier auch das zu finden, was er verloren hatte: ein Ziel.
Vor seinem geistigen Auge tauchten auf einmal die Männer auf, die auf dem Schiff um die Wette gebrüllt hatten, wer von ihnen die meisten Sarazenen erschlagen würde.
»Was glotzt Ihr so?«, hatte einer von denen ihm zugerufen. »Seid Ihr etwa
nicht
gekommen, um Heiden totzuschlagen?«
Wir sind nicht hier, um zu lernen, sondern um zu töten, scholl als stumme Ermahnung in seinem Geist.
Nein, wir sollen Pilger schützen und ihnen den Zugang zu den heiligen Städten in Jerusalem ermöglichen, widersprach Thomas im Geiste.
Die Pilger
haben
Zugang zu den heiligen Städten, höhnte die fremde Stimme in seinem Kopf, das sicherte ihnen Saladin zu. Ihr sollt Jerusalem erobern, und dazu müsst ihr kämpfen und jene töten, die nicht dem einzig wahren Glauben anhängen.
Nein, das kann nicht das rechte Ziel dieser Pilgerfahrt sein, beharrte Thomas in Gedanken. Claras Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Er war hier auf der Suche nach etwas, von dem er noch nicht wusste, was es war.
Und er wollte Seelenfrieden, Vergebung aller Sünden für sich, seine Schwester und seine Eltern.
Ein junger Laienbruder tauchte auf und unterbrach seine finsteren Gedankengänge.
»Seid Ihr Thomas von Christiansdorf?«, erkundigte er sich. »Ich soll Euch zu Euern Herrn begleiten.«
Andächtig schlug Thomas das kostbare Büchlein wieder in das Leinen ein und legte es in den Korb, unter die frischen Blätter und Stengel, die Bruder Notker gesammelt hatte. Er dankte ihm und verabschiedete sich höflich von ihm, dann folgte er dem Boten. Er würde Notker hier ganz gewiss noch öfter besuchen.
Der Laienbruder führte ihn in einen Raum, in dem ihn nicht nur Dietrich erwartete, sondern ein hochgewachsener Mann mit strengen Gesichtszügen – und zu
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