Der Traum der Hebamme / Roman
hatten Rutgers Männer und die Zeit gewütet. Vor der Herdstelle lagen tönerne Scherben. Sie erkannte noch das Muster der Becher, die sie einst beim Töpfer im Nikolaiviertel gekauft hatte. Asche und welke Blätter bedeckten den Boden. Truhen, Tisch und Bänke fehlten, ebenso Töpfe, Krüge, Becher und hölzerne Schalen. Wer weiß, wer von den Stadtbewohnern sich inzwischen den Hausrat geholt hatte.
Vorsichtig warf sie einen Blick in die Kammer, in der sie früher ihre Arzneien aufbewahrt und Kranke behandelt hatte. Sämtliche Krüglein und Tiegel lagen zerbrochen am Boden, statt getrockneten Kräutern hingen große Spinnennetze von den Balken.
Doch nicht die Leere und mutwillige Zerstörung ließen Marthe schaudern, sondern das unbestimmte Gefühl, hier noch den Nachhall des Hasses und der Boshaftigkeit zu spüren, die von Rutger ebenso wie von seinem Vater ausgegangen waren. Ihr schien, als ob deren finstere Gedanken und Taten wie eine dunkle Wolke durch das Haus waberten.
Als einzige Hinterlassenschaft früherer Bewohner stand in einer Ecke verloren ein Besen mit halb abgebrochenen und weit auseinandergespreizten Reisern, für den wohl niemand von den Nachbarn Verwendung gefunden hatte.
Marthe griff nach ihm, also könnte sie in dieser unheimlichen Umgebung Halt daran finden, und sagte, so entschlossen sie vermochte: »Hier muss erst einmal gründlich aufgeräumt werden.«
Bevor sie an die Arbeit gehen konnte, knarrte die Tür, jemand zwängte sich durch die Reisigen und jubelte: »Mutter!«
Im nächsten Augenblicke fiel ihr Johanna um den Hals, ihre Stieftochter aus erster Ehe, Kunos Frau.
Nach der stürmischen Begrüßung löste sich Johanna von Marthe und zog sie hinaus ins Freie. »Ihr könnt hier unmöglich bleiben! Ich rufe ein paar Frauen zusammen, die alles wieder wohnlich machen. Kommt erst einmal zu uns, der Platz wird schon reichen.«
Marthe blinzelte, um sich nach der Düsternis des verlassenen Hauses wieder an das Sonnenlicht zu gewöhnen und die Tränen zu unterdrücken. Sie spürte einen stechenden Schmerz in der Schläfe und jäh aufkommende Übelkeit.
»Ist dir nicht gut, Mutter?«, fragte Daniel und griff besorgt nach ihrem Arm.
»Ich muss mich nur setzen nach der langen Reise«, erwiderte sie matt.
Doch dazu kam es nicht. Denn schon betrat Jonas, der Schmied, den Garten, kurz darauf folgten Karl, Anna, Peter, der greise Fuhrmann Friedrich, die alte Elfrieda, die Frau des Gürtlers aus der Nachbarschaft und viele andere Vertraute aus früherer Zeit, um die Heimgekehrten zu begrüßen und sich zu vergewissern, dass sie wirklich bleiben würden.
Es wurde ein turbulentes Wiedersehen, bis Marthe schließlich sagte: »Geht schon vor. Ich will hier noch einen Moment allein bleiben.«
Die Mehrzahl der Besucher verabschiedete sich, um die gute Nachricht in der Stadt zu verbreiten, während Elfrieda, Anna und die Gürtlerin sich absprachen, ein paar Frauen zusammenzutrommeln, die mit ihnen das Haus herrichteten.
»Ihr braucht Bänke, Truhen, einen Tisch …«, meinte Jonas im Gehen. »Ich schau gleich beim Zimmerer vorbei und kümmere mich darum.«
»Und ich schicke ein Gespann, der die Sachen hierher bringt«, entschied Friedrich sofort.
»Ein Bett. Wir brauchen ein Bett …«, rief Marthe ihm hinterher. Sie hatte nicht nachgesehen, ob die Schlafstatt im oberen Geschoss noch stand. Wahrscheinlich war sie fort oder zerstört wie alles andere auch. Selbst wenn sie noch dort war; sie könnte den Gedanken nicht ertragen, sich in ein Bett zu legen, in dem nach allem, was sie wusste, sich Rutger Frauen mit Gewalt gefügig gemacht hatte.
Doch ihre Freunde waren schon damit beschäftigt, Aufgaben untereinander zu verteilen, damit das Haus wieder bewohnbar wurde.
An die Einfassung des Brunnens gelehnt, starrte Marthe auf die geschäftigen Stadtbewohner und dachte an die Zeit zurück, als sie mit dem Siedlerzug hier eintraf. Fast dreißig Jahre war das nun her, beinahe ein Menschenleben. Und so wie der Ort nicht wiederzuerkennen war, wie aus dem dunklen Weiler eine Stadt gewachsen war, hatten sich auch die Menschen verändert.
Wenn Christian das erleben könnte!, dachte sie bewegt. Er wäre so froh und stolz. Aber vielleicht sieht er ja vom Himmel auf uns herab und freute sich mit uns.
Daniel und Johanna drängten sie, mit ihnen zu Karls Haus zu reiten und sich von der Reise auszuruhen. Doch bevor sich Marthe in den Sattel helfen ließ, wandte sie sich an Pater Hilbert, der einen Blick in
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