Der Traum des Kelten
dieser Hinsicht war sein Leben gescheitert. Etliche sporadische Geliebte – Dutzende, vielleicht sogar Hunderte –, doch keine einzige Liebesbeziehung. Reiner Sex, hastig und animalisch. Letztlich waren alle Episoden seines spät begonnenen Sexual- und Liebeslebens so rasch und folgenlos verlaufen wie damals in der Lagune bei dem kleinen Weiler Boma am Unterlauf des Kongos. Flüchtige Momente der Wonne, nichts, das mit einer richtigen, andauernden Beziehung vergleichbar gewesen wäre, die nicht nur von der Leidenschaft, sondern auch von Verständnis, Komplizenschaft, Freundschaft, Dialog und gegenseitiger Unterstützung lebte, wie die Beziehung, um die er Herbert und Sarita Ward immer beneidet hatte. Das war eine weitere große Lücke in seinem Leben, die ihn mit Wehmut erfüllte.
Da bemerkte er, dass unter seiner Zellentür das erste Tageslicht hindurchschien.
XII
›Ich werde bei dieser verfluchten Reise draufgehen‹, dachte Roger, als Sir Edward Grey ihm erklärte, dass die britische Regierung angesichts der widersprüchlichen Nachrichten, die sie aus Peru erreichten, nur mit Bestimmtheit wissen könne, woran sie sei, wenn Roger erneut nach Iquitos reisen und sich vor Ort vergewissern würde, ob die peruanische Regierung Maßnahmen getroffen habe, um die Missstände in Putumayo zu beheben, oder ob sie die geforderten Reformen verschleppe, weil sie sich Julio C. Arana nicht entgegenstellen könne oder wolle.
Rogers Zustand verschlechterte sich zusehends. Seit der Rückkehr aus Iquitos litt er wieder unter Bindehautentzündung und Wechselfieber. Auch die Hämorrhoiden quälten ihn. Unmittelbar nach seinem Eintreffen in London, Anfang Januar 1911, unterzog er sich ärztlichen Untersuchungen. Die beiden Spezialisten, die er aufsuchte, schrieben seinen Zustand den Reisestrapazen zu. Er müsse sich erholen, ein Urlaub sei ratsam.
Doch das ging nicht. Der Bericht, den die britische Regierung ungeduldig erwartete, die zahlreichen Besprechungen im Ministerium, bei denen er von seinen Eindrücken im Amazonasgebiet berichten sollte, und einige Treffen mit Mitgliedern der Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei nahmen ihn ganz in Anspruch. Außerdem traf er sich mit den englischen und peruanischen Vorständen der Peruvian Amazon Company , die zwei Stunden lang wie versteinert seine Schilderungen über die Situation in Putumayo anhörten. Sie waren so bestürtzt, dass sie sich schließlich von ihm verabschiedeten, ohne auch nur eine einzige Frage gestellt zu haben.
An dem zweiten Treffen mit Delegierten der PeruvianAmazon Company nahm Julio C. Arana selbst teil. Es war das erste und einzige Mal, dass Roger diesem Menschen persönlich begegnete, den die einen verherrlichten, als wäre er ein Heiliger oder politischer Führer, und dem andere die schlimmsten Eigenschaften zuschrieben. Roger nahm ihn in Augenschein wie ein Entomologe, der ein noch nicht katalogisiertes Insekt vor sich hat.
Arana gab vor, Englisch zu verstehen, sprach es jedoch nie, ob aus Unsicherheit oder Eitelkeit. Ein Dolmetscher übersetzte ihm leise ins Ohr. Der Gründer der Peruvian Amazon Company war nicht besonders groß, dunkelhaarig, seine leicht schräggestellten, asiatisch anmutenden Augen verliehen ihm die Züge eines Mestizen, er hatte eine breite Stirn, über der sich sein lichtendes Haar in der Mitte scheitelte. Sein Schnurr- und Kinnbart waren frisch gestutzt, und er verströmte einen Duft nach Kölnisch Wasser. Ganz offensichtlich war er so sehr auf Reinlichkeit und makellose Garderobe bedacht, wie man ihm nachsagte. Sein feiner Kordanzug war tadellos geschnitten, womöglich eine Maßanfertigung aus der Savile Row. Arana tat den Mund nicht auf, während die übrigen Vorstände Roger diesmal zahllose Fragen stellten, die ohne Zweifel von den Anwälten der Gesellschaft vorbereitet worden waren. Sie versuchten, ihn in Widersprüche zu verwickeln, unterstellten Irrtümer, Übertreibungen und warfen ihm vor, die Dinge aus der sentimentalen Sicht eines kultivierten Europäers zu betrachten, der sich mit einer primitiven Welt konfrontiert sieht.
Während Roger ihnen antwortete, weitere Vorkommnisse und Details anführte, beobachtete er Julio C. Arana aus den Augenwinkeln. Reglos wie eine Götzenstatue saß der Potentat auf seinem Stuhl. Seine Miene war undurchdringlich, in seinem harten, kalten Blick lag etwas Unerbittliches. Roger erinnerte er an die erloschenen Blicke der Vorsteher in den Kautschukstationen von Putumayo, denen ebenfalls
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