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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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die Kälte bannen, die ihm in den Knochen steckte. Und er litt an einer Klaustrophobie, die ihm jetzt wie ein Vorbote dessen vorkam, was ihm später im Gefängnis von Brixton, im Londoner Tower und im Pentonville-Gefängnis widerfahren sollte.
    Sicherlich waren die Übelkeit und seine allgemeine Schwäche daran schuld gewesen, dass er die Zugfahrkarte von Berlin nach Wilhelmshaven in seiner Manteltasche vergaß. Die Polizisten, die ihn in McKenna’s Fort festnahmen, holten sie hervor, als sie ihn auf der Polizeiwache von Tralee durchsuchten. Die Zugfahrkarte diente der Staatsanwaltschaft während des Prozesses als Beweis, dass er aus Deutschland, dem Feindesland, nach Irland gekommen war. Schlimmer noch war, dass die Polizisten der Royal Irish Constabulary in einer anderen Tasche den Zettel mit dem Geheimcode fanden, den ihm die Oberste Heeresleitung gegeben hatte, damit er sich im Notfall mit der höchsten kaiserlichen Kommandoebene in Verbindung setzen könnte. Wie war es möglich, dass er ein so kompromittierendes Dokument nicht vernichtet hatte, ehe er das U-Boot verlassen hatte? Diese Frage schwärte in seinem Kopf wie eine Wunde. Und doch erinnerte Roger sich ganz genau, dass Bailey und er, bevor sie sich vom Kapitän und der Besatzung verabschiedeten, auf Anraten Monteiths ihre Taschen gründlich durchsucht hatten, um alles wegzuwerfen, was Hinweis auf ihre Identität und den Ausgangspunkt ihrer Reise hätte geben können. Wie konnte er so nachlässig gewesen sein, dass ihm eine Zugfahrkarte und der Geheimcode entgingen? Er dachte an das befriedigte Lächeln, mit dem der Staatsanwalt den Zettel mit dem Code vor Gericht hochhielt. Welchen Schaden mochte diese Information in den Händen des britischen Geheimdienstes für Deutschland bedeutet haben?
    Er war physisch und psychisch angegriffen gewesen, anders ließ es sich nicht erklären, seine Gesundheit hatte in Deutschland gelitten, die politischen Ereignisse hatten ihm zugesetzt – erst scheiterte seine Irische Brigade, dann erfuhrer, dass die Volunteers und die Irish Revolutionary Brotherhood den Osteraufstand ohne eine militärische Parallelaktion der Deutschen beschlossen hatten –, und seine Klarsicht und sein geistiges Gleichgewicht beeinträchtigt, das alles hatte ihn seiner Konzentrationsfähigkeit beraubt. Oder waren es die ersten Anzeichen des Wahnsinns? Dieses Gefühl war ihm vertraut, im Kongo und im Amazonas war es ihm ähnlich ergangen, als er Zeuge der bestialischen Brutalität wurde, der die Eingeborenen dort ausgesetzt waren. Drei- oder viermal war er damals dem Zusammenbruch nahe gewesen, hatte ihn eine lähmende Ohnmacht überkommen angesichts des grenzenlosen Bösen. Unter solchen Umständen mag man folgenschwere Unachtsamkeiten begehen. Einen Augenblick lang erleichterte ihn diese Begründung, aber gleich darauf empfand er wieder Schuld und Reue.
    »Ich hatte schon den Gedanken, mir das Leben zu nehmen«, ließ die Stimme des Sheriffs ihn auffahren. »Ohne Alex hat das Leben für mich keinen Sinn. Ich habe keine anderen Verwandten. Auch keine Freunde. Nur ein paar Bekannte. Mein Sohn war alles für mich. Wozu weitermachen, ohne ihn?«
    »Solche Gedanken kenne ich, Sheriff«, murmelte Roger. »Aber trotz allem hat das Leben doch auch schöne Seiten. Sie werden schon sehen, Sie sind ja noch jung.«
    »Ich bin siebenundvierzig und sehe älter aus«, entgegnete der Wächter. »Und ich habe mich nur wegen der Religion nicht umgebracht. Sie verbietet es. Aber ganz ausgeschlossen habe ich es noch nicht. Wenn ich nicht darüber hinwegkomme, wenn sich weiter alles so leer und gleichgültig anfühlt, dann tue ich es. Das Leben muss einem lebenswert vorkommen. Sonst lässt man es besser.«
    Er sagte das ganz ruhig und überlegt. Dann verfiel er wieder in Schweigen. Roger lauschte. Er vermeinte die Klänge eines Liedes, einen Chor zu hören, doch so gedämpft und fern, dass er weder Melodie noch Text erkannte.
    Warum waren die Anführer des Aufstands dagegen gewesen,dass er nach Irland zurückkehrte? Warum hatten sie auf die deutsche Regierung eingewirkt, ihn in Berlin zu behalten und als »Botschafter« der nationalistischen irischen Organisationen – welch ein lächerlicher Titel! – anzuerkennen? Er hatte die entsprechenden Briefe gesehen, die fraglichen Sätze wieder und wieder gelesen. Für Monteith bestand kein Zweifel, dass es auf Rogers Ablehnung eines Aufstands ohne flankierende Militäroffensive zurückging. Warum hatten sie ihm das

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