Der Traum des Kelten
keinen Platz, hier zählten allein Interessen und Zweckmäßigkeiten. Die Regierung war vermutlich damit beschäftigt, die Vor- und Nachteile seiner möglichen Hinrichtung abzuwägen. Könnte sie als Warnung dienen? Würde sie die Beziehungen zwischen der englischen Regierung und der irischen Bevölkerung verschlechtern? Die Verleumdungskampagne gegen ihn zielte darauf ab, ihm jegliche Sympathien zu rauben. Wer fände es schon bedauernswert, wenn ein Degenerierter, ein menschlicher Abschaum, an den Galgen gebracht würde?
Es war eine Dummheit gewesen, die Tagebücher offen herumliegen zu lassen, als er in die Vereinigten Staaten aufbrach. Eine Nachlässigkeit, die sich das Empire geschickt zunutze machte. Nun würde die Wahrheit über sein Leben, sein politisches Handeln und sogar seinen Tod für lange Zeit verschleiert bleiben.
Er schlief wieder ein. Dieses Mal hatte er einen Albtraum, an den er sich beim Aufwachen noch diffus erinnerte. Ein Vogel kam darin vor, ein Kanarienvogel, der traurig in seinem Käfig zwitscherte. Verzweifelt schlug er mit seinen goldenen Flügelchen, als könnte er so die Gitter auseinanderbiegen. Seine kleinen Pupillen huschten hin und her, als würde er um Erbarmen bitten. Roger, ein Kind in kurzen Hosen, sagte zuseiner Mutter, dass es keine Käfige oder zoologischen Gärten geben dürfte, dass die Tiere in Freiheit leben müssten. Gleichzeitig spürte er eine Gefahr nahen, etwas Heimtückisches, das zum Schlag ausholte. Er war schweißüberströmt und zitterte am ganzen Körper.
Er fuhr auf. Sein Herz raste so sehr, dass er sich kurz vor einem Herzinfarkt glaubte. Er bekam kaum Luft. Sollte er den Wärter rufen? Sofort verwarf er diesen Gedanken wieder. Was wäre besser, als hier und jetzt, auf dieser Pritsche, eines natürlichen Todes zu sterben, der ihn vor dem Schafott bewahren würde? Wenig später beruhigte sich sein Herzschlag, und er konnte weiter normal atmen.
Ob Pater Carey heute kommen würde? Gern würde er sich mit ihm unterhalten, über die Seele, die Religion, Gott und vielleicht ein klein wenig über Politik. Während er versuchte, die Bilder des Albtraums abzuschütteln, kam ihm das letzte Treffen mit dem Gefängniskaplan in den Sinn und das plötzliche Unbehagen, das zu seiner großen Bekümmerung zwischen ihnen entstanden war. Sie hatten von seinem Übertritt zum Katholizismus gesprochen. Pater Carey hatte ihn erneut daran erinnert, dass er nicht von »Übertritt« sprechen dürfe, da er als Kind getauft worden sei und damit der Kirche stets angehört habe. Es handele sich vielmehr um einen Akt der Bekräftigung, was keiner formalen Schritte bedürfe. Jedenfalls – und Roger bemerkte, dass Pater Carey an dieser Stelle zögerte und seine Worte sorgfältig wählte – habe Seine Eminenz Kardinal Bourne sich überlegt, dass Roger, wenn er dazu bereit sei, ein inoffizielles Dokument abfassen könnte, in dem er seinem Wunsch Ausdruck verleihen möge, zum katholischen Glauben zurückzukehren und gleichzeitig alte Fehler und Sünden zu widerrufen und zu bereuen.
Pater Carey war das Ganze offensichtlich äußerst unangenehm. Roger schwieg zunächst, dann sagte er ruhig:
»Ich werde kein Dokument unterzeichnen, Pater Carey. Mein Eintritt in die katholische Kirche wird ein privater Akt sein, mit Ihnen als einzigem Zeugen.«
»So soll es sein«, sagte der Kaplan.
Nach einer Weile fragte Roger:
»Kardinal Bourne bezieht sich, nehme ich an, auf die gegen mich gerichtete Kampagne, die Gerüchte über mein Privatleben? Soll ich dafür Reue zeigen?«
Pater Careys Atem ging schneller. Wieder suchte er nach Worten.
»Kardinal Bourne ist ein verständnisvoller Mensch mit großem Herzen«, sagte er schließlich. »Aber vergessen Sie nicht, Roger, er trägt die Verantwortung für den guten Ruf der Kirche in einem Land, in dem die Katholiken in der Minderheit sind und in dem noch immer viel Hass gegen uns geschürt wird.«
»Sagen Sie es mir ganz offen, Pater Carey, hat Kardinal Bourne meine Wiederaufnahme in die katholische Kirche unter die Bedingung gestellt, dass ich dieses Dokument unterzeichne, in dem ich mich selbst der unsäglichen Dinge bezichtige, derer mich die Presse beschuldigt?«
»Es ist keine Bedingung, nur eine Anregung«, sagte der Geistliche. »Sie können sie beherzigen oder nicht, das wird nichts ändern. Sie sind getauft. Damit sind und bleiben Sie ein Katholik. Sprechen wir nicht mehr über diese Angelegenheit.«
Und tatsächlich sprachen sie auch nicht
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