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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Leidensfähigkeit beseelte bereits Cú Chulainn und andere mythische Helden Irlands, wie auch den stillen Heroismus seiner Heiligen, denen Alice eingehende Studien gewidmet hatte. Dieser heroische Gestus fand großen Zuspruch. Die Iren waren vielleicht nicht besonders praktisch veranlagt, dafür setzten sie sich stets bedingungslos dafür ein, die verwegensten Träume von Gerechtigkeit, Gleichheit und Glück zu verwirklichen. Mochte ein Scheitern auch unumgänglich sein. So selbstmörderisch der Plan von Pearse, Clarke, Plunkett und den anderen gewesen war, hatten jene sechs Tage des ungleichen Kampfes doch den unbezwingbaren, idealistischen, tollkühnen Geist des irischen Volkes zum Vorschein gebracht, auf den die Welt voller Bewunderung gesehen hatte. Wie himmelweit entfernt davon war die Haltung seiner im Lager von Limburg gefangenen Landsleute, die seinen Worten kein Gehör hatten schenken wollen. Das war die andere Seite Irlands: die der Unterworfenen, denen nach der jahrhundertelangen Kolonisierung der Wille zum Widerstand abhandengekommen war. War dies ein weiterer Irrtum gewesen? Was wäre geschehen, wenn die mit der Aud verschickten deutschen Waffen von den Volunteers am 20. April in Tralee Bay in Empfang genommen worden wären? Er stellte sich Hunderte Iren vor, wie sie auf Fahrrädern, Eseln, Maultieren, Karren und in Automobilen in sternklarer Nacht quer durch Irland gefahren wären und diese Waffen und Munition verteilt hätten. Hätte alles einen anderen Ausgang genommen mit diesen zwanzigtausend Gewehren, zehn Maschinengewehren und fünf Millionen Patronen in den Händen der Aufständischen?Zumindest hätten die Kämpfe länger gedauert, die Rebellen hätten sich besser verteidigen können und dem Feind schwerere Verluste verursacht. Erleichtert bemerkte Roger, dass er müde wurde. Der Schlaf würde all diese Bilder fortwischen und ihm seine Beklemmung nehmen. Allmählich nickte er ein.
    Er hatte einen Traum, der angenehm begann. Immer wieder erschien ihm darin seine Mutter. Sie war hübsch und grazil und lächelte ihm unter einem großen Strohhut mit einem im Wind flatternden Band zu. Ein geblümter Schirm schützte ihr blasses Gesicht vor der Sonne. Sie sah ihn an, und er sah sie an, und nichts schien diesen stummen, liebevollen Dialog unterbrechen zu können. Da trat Hauptmann Casement aus dem Wald, in seiner Paradeuniform des leichten Dragonerregiments. Er blickte Anne Jephson wollüstig an. Diese obszöne Gier beängstigte Roger. Er wusste nicht, was er tun sollte. Eine schreckliche Vorahnung lähmte ihn, und doch war er unfähig, zu verhindern, was unvermeidlich geschehen würde. Mit Tränen in den Augen sah er zu, wie der Hauptmann seine Mutter in die Luft schwang. Er hörte sie aufschreien und dann unnatürlich auflachen. Voller Abscheu und Eifersucht sah er zu, wie sein Vater sie in den Wald trug. Sie verschwanden zwischen den Bäumen, ihr Lachen wurde schwächer, bis es ganz verhallte. Nun waren nur noch das Pfeifen des Windes und das Trillern der Vögel zu hören. Er weinte nicht. Die Welt war grausam und ungerecht, und es war besser, zu sterben, als solche Qualen zu erleiden.
    Der Traum ging noch eine ganze Weile weiter, doch Roger erinnerte sich nicht mehr an seinen Ausgang, als er Minuten oder Stunden später, noch im Dunkeln, aufwachte. Er konnte sich nicht daran gewöhnen, nicht zu wissen, wie spät es war. Es gab ihm das beängstigende Gefühl, aus der Zeit verstoßen worden zu sein, in einem vagen Niemandsland zu leben.
    Seit seiner Inhaftierung waren gut drei Monate vergangen, aber ihm war, als befände er sich seit Jahren hinter Gittern, in einer Isolation, die ihn langsam seines Menschseins beraubte.Er hatte es Alice nicht gesagt, doch wenn er irgendwann die Hoffnung gehabt hatte, die britische Regierung könnte das Gnadengesuch annehmen und seine Todesstrafe in eine Gefängnisstrafe umwandeln, so hatte er sie inzwischen verloren. Der Osteraufstand hatte in England eine erbitterte Rachlust ausgelöst, jene Verräter exemplarisch zu bestrafen, die in Deutschland, dem auf den Schlachtfeldern Flanderns bekämpften Feind, einen Alliierten Irlands sahen. Seltsam war nur, dass das Kabinett seine Entscheidung aufgeschoben hatte. Worauf wartete man? Wollte man seine Agonie verlängern, sollte er für seine Undankbarkeit gegenüber dem Land büßen, das ihn ausgezeichnet und geadelt und mit dessen Gegnern er sich im Gegenzug verschworen hatte? Aber nein, in der Politik hatten Gefühle

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