Der Traum des Kelten
seiner Mutter, seines Vaters oder seiner Geschwister zuzuwenden. Wie glücklich konnten sich diejenigen wähnen, die ihre Gewissheit über die Existenz des höchsten Wesens nie in Frage gestellt hatten, das ihrer Welt Ordnung und Sinn gab. Wer so fest glaubte, würde dem Tod fraglos mit einer Ergebenheit entgegensehen, die einem wie ihm, der stets Verstecken mitGott gespielt hatte, niemals zuteilwerden würde. Roger erinnerte sich, dass er einmal ein Gedicht mit ebendiesem Titel geschrieben hatte: »Versteckspiel mit Gott«. Doch Herbert Ward hatte ihn davon überzeugt, dass es nichts wert war, und er hatte es in den Papierkorb geworfen. Zu schade. Er hätte es jetzt gern noch einmal gelesen und überarbeitet.
Der Morgen graute. Licht fiel durch die Gitterstäbe des hohen Fensters. Bald würde jemand kommen, ihm das Frühstück bringen und ihn den Eimer mit seinen Verrichtungen ausleeren lassen.
Doch offenbar dauerte es heute länger, bis er zu seiner ersten Stärkung käme. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, ein kaltes goldgelbes Licht erhellte seine Zelle. Er las bereits eine ganze Weile die Maximen von Thomas von Kempen, man solle lieber die Belehrungen eines Besseren suchen, als dem eigenen Dünkel zu folgen, und wie unfruchtbar »mühevolles Grübeln über verborgene und dunkle Dinge« sei, »um derentwillen wir am Tage des Gerichts nicht werden bestraft werden, weil wir sie nicht erkannt haben«, als er hörte, wie der Schlüssel in der Tür umgedreht und sie aufgeschoben wurde.
»Guten Morgen«, sagte der Wärter und stellte eine Tasse Kaffee auf den Boden und legte ein Stück Schwarzbrot daneben. Oder war es heute Tee? Aus unerfindlichen Gründen gab es zum Frühstück einmal Tee, dann wieder Kaffee.
»Guten Morgen«, sagte Roger, stand auf und griff nach dem Eimer. »Irre ich mich oder sind Sie heute später dran als sonst?«
Der Wärter hielt sich an das Redeverbot und gab keine Antwort, wich auch seinem Blick aus, wie es Roger schien. Er trat zur Seite, um ihn vorbeizulassen, und Roger ging mit dem Eimer in der Hand in den verrußten Korridor hinaus. Der Wärter hielt sich zwei Schritte hinter ihm. Die Sommersonne, die an den dicken Mauern und auf dem Steinboden schimmerte, hob seine Stimmung. Er dachte an die Londoner Parks, an den Serpentine-See, die hohen Platanen, Pappelnund Kastanienbäume im Hyde Park, wie schön es wäre, jetzt ebendort entlangzuschlendern, sich unter die Spaziergänger, Reiter, Fahrradfahrer, die Familien mit Kindern zu mischen.
Im leeren Waschraum – die Anweisungen lauteten wohl, ihn nicht zu den allgemeinen Waschzeiten hierherzubringen – säuberte er den Eimer. Dann setzte er sich erfolglos auf eine Kloschüssel (sein Leben lang hatte er unter Verstopfung gelitten), ehe er die blaue Häftlingsjacke auszog, um sich Oberkörper und Gesicht zu waschen und abzuschrubben. Er trocknete sich mit einem feuchten Handtuch ab, das an einem Haken hing. Mit dem sauberen Eimer kehrte er langsam in seine Zelle zurück und erfreute sich wieder an der Sonne, die durch die vergitterten Fenster oben in der Wand fiel, und an den Geräuschen – ferne Stimmen, Hupen, Schritte, Motorenlärm, Quietschen –, die ihm das Gefühl gaben, erneut in die Zeit eingetreten zu sein, und die verstummten, kaum hatte der Wärter die Tür hinter ihm geschlossen.
Das Getränk hätte ebenso gut Tee wie Kaffee sein können. Doch so ungenießbar es auch sein mochte, tat die warme Flüssigkeit seinem Magen gut und linderte sein morgendliches Sodbrennen. Das Brot hob er für später auf, sollte ihn der Hunger überkommen.
Er legte sich auf die Pritsche und nahm die Lektüre der Nachfolge Christi wieder auf. Gelegentlich erschienen ihm die Sätze von einer geradezu kindlichen Einfalt, doch nur eine Seite weiter konnte er auf einen Gedanken stoßen, der ihn so aufwühlte, dass er das Buch schloss und den Worten nachsann. So schrieb der Mönch beispielsweise, es sei gut, zuweilen einige Beschwerden und Widerwärtigkeiten zu empfinden, denn sie riefen den Menschen oft in sein Herz zurück, damit er erkenne, »wie er hier ein Fremdling« sei, und seine Hoffnung nicht auf irgendetwas in der Welt setze, sondern nur auf Jenseitiges. Wie wahr. Der deutsche Mönch hatte vor fünfhundert Jahren in seinem Kloster in Agnetenberg etwas in Worte gefasst, das Roger nun am eigenen Leib erfuhr. Oder das er vielmehr von Kindheit an erfahren hatte, seit seineMutter gestorben und er für den Rest seines Lebens zu einem
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