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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Waisen geworden war. Als ein Fremdling hatte er sich immer gefühlt, ob in Schottland, England, Afrika, Brasilien, Iquitos oder Putumayo. Einen Großteil seines Lebens hatte er dieses Weltbürgertum hochgehalten, das Yeats offenbar an ihm bewunderte: nicht einem, sondern allen Orten anzugehören. Lange Zeit hatte er sich gesagt, dass dieses Privileg ihm eine Freiheit ermöglichen würde, die niemand kannte, der an einem einzigen Ort verankert wäre. Doch Thomas von Kempen hatte recht, und er hatte sich keinem Ort je zugehörig gefühlt, weil das menschliche Dasein im Grunde eine Verbannung war, eine Verbannung in ein Tal der Tränen. Der Mensch lebte sein flüchtiges Schicksal, bis er nach dem Tod im Jenseits zum Quell des Lebens zurückkehren würde, für alle Ewigkeit.
    Thomas von Kempens Ratschläge, um Versuchungen zu widerstehen, waren dagegen naiv. Ob dieser fromme Mann in seinem einsamen Kloster jemals von wirklichen Versuchungen heimgesucht worden war? Wenn ja, dann dürfte es ihm nicht so leichtgefallen sein, sie zu bekämpfen und zu wachen, »damit der Teufel nicht Raum findet zur Verführung, denn er schläft nimmer, sondern geht umher und suchet, welchen er verschlinge«. Für Thomas von Kempen war niemand so vollkommen, dass er nicht »von Zeit zu Zeit Versuchungen haben sollte«, auch trage der Mensch die Versuchung in sich, da er mit Verlangen geboren sei.
    Roger selbst war oft schwach gewesen und hatte seinem Verlangen nachgegeben. Nicht so oft, wie er es in seinen Tage- und Notizbüchern notiert hatte, doch war dieses schriftliche Festhalten von Dingen, die man nicht erlebt, wohl aber begehrt hatte, nicht auch eine Form – eine schüchterne, feige –, sie zu leben und damit der Versuchung zu erliegen? Musste man auch für die Lust bezahlen, die man nicht wirklich, sondern allein in der Fantasie empfunden hatte? Würde er für alles, was er nicht getan, sondern nur ersehnt und niedergeschrieben hatte, büßen müssen?
    Allerdings beinhaltete die Niederschrift von Dingen, die man nicht wirklich erlebt hatte, aber gern erlebt hätte, bereits eine Bestrafung: das Gefühl des Scheiterns und die Ernüchterung, die diese kleinen Lügengeschichten am Ende stets mit sich brachten. (Wie auch, ganz abgesehen davon, die tatsächlich gelebten Geschichten.) Doch nun hatten diese fahrlässigen Spielchen dem Feind ein vortreffliches Mittel in die Hand gegeben, um seinen Namen und seine Erinnerung in den Schmutz zu ziehen.
    Andererseits war es nicht eindeutig ersichtlich, auf welche Versuchungen Thomas von Kempen sich bezog. Sie konnten schließlich zuweilen maskiert auftreten, sich hinter harmlosen Dingen, der Freude am Schönen verbergen. Roger erinnerte sich an seine Jugend und sein erstes Wohlgefallen an den schlanken, harmonisch muskulösen Körpern anderer Halbwüchsiger, das nichts Böses und Lüsternes in sich zu tragen, sondern ein Ausdruck ästhetischen Feingefühls und Schwelgens schien. Zumindest hatte er das lange Zeit geglaubt. Und genau dieser Schönheitssinn hatte ihn dazu bewogen, das Fotografieren zu erlernen, um diese prächtigen Körper zu verewigen. Doch irgendwann, er lebte bereits in Afrika, hatte er bemerkt, dass es kein ganz unschuldiges Schwelgen war, sondern darin noch etwas anderes lag, denn diese geschmeidigen, schweißbedeckten, sehnigen Körper mit der Sinnlichkeit von Wildkatzen riefen nicht mehr nur Bewunderung in ihm hervor, sondern auch eine unbezähmbare Lust, sie zu berühren, ein sündiges Verlangen. Und so waren die Versuchungen Teil seines Lebens geworden, hatten es durcheinandergebracht, mit Geheimnissen, Ängsten und Beklemmungen erfüllt, aber auch mit Augenblicken höchster Wonne. Und natürlich mit Reue und Bitterkeit. Ob Gott all das abwägen würde, wenn der Moment gekommen wäre? Würde er ihm vergeben? Ihn bestrafen? Er war eher neugierig als furchtsam. Als handele es sich nicht um ihn selbst, sondern um ein Denkspiel, ein zu lösendes Rätsel.
    Da hörte er überrascht, wie sich erneut der Schlüssel imschweren Schloss umdrehte. Als die Zellentür aufging, fiel gleißendes Tageslicht herein. Geblendet nahm Roger wahr, wie drei Personen eintraten. Ihre Gesichter konnte er nicht erkennen. Er erhob sich. Als sich die Tür schloss, sah er, dass er den Direktor des Pentonville-Gefängnisses vor sich hatte, dem er bis dahin nur zweimal begegnet war. Ein hagerer älterer Herr in dunklem Anzug, der ihn aus seinem faltigen Gesicht sehr ernst anblickte. Hinter ihm stand

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