Der Traum des Kelten
kreidebleich der Sheriff, daneben ein anderer Wärter mit gesenktem Kopf. Das Schweigen schien eine Ewigkeit zu dauern.
Schließlich sah der Direktor ihm in die Augen und ergriff zunächst zögerlich, dann immer bestimmter das Wort:
»Es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass heute Morgen, am 2. August 1916, der Ministerrat der Regierung Seiner Majestät des Königs zusammengetreten ist, um über das von Ihren Anwälten eingereichte Gnadengesuch zu entscheiden, welches von den anwesenden Ministern einstimmig abgelehnt wurde. Folglich wird das Urteil des Tribunals, das Sie wegen Hochverrats gerichtet und verurteilt hat, am morgigen Tag, den 3. August 1916, um neun Uhr früh im Hof des Pentonville-Gefängnisses vollstreckt werden. Es ist üblich, dass der Häftling bei der Hinrichtung nicht seine Häftlingsuniform trägt, sondern ihm die Zivilkleidung überlassen wird, die bei seinem Eintritt ins Gefängnis einbehalten wurde. Dergleichen teile ich Ihnen mit, dass die katholischen Kaplane Pater Carey und Pater MacCarroll zu Ihrer Verfügung stehen, sollten Sie spirituellen Beistand wünschen. Es sind die einzigen Personen, mit denen Sie reden dürfen. Wenn Sie Ihren Angehörigen schreiben möchten, um Ihre letzten Verfügungen mitzuteilen, wird die Anstalt Ihnen entsprechendes Schreibmaterial zur Verfügung stellen. Wenn Sie noch einen anderen Wunsch haben, so können Sie diesen jetzt äußern.«
»Wann kann ich die Priester sehen?«, fragte Roger, und seine Stimme klang ihm selbst spröde und kalt.
Der Direktor wandte sich dem Sheriff zu, wispernd tauschten sie sich aus, dann antwortete der Sheriff:
»Sie werden am frühen Nachmittag kommen.«
»Danke.«
Nach einem kurzen Moment der Unentschlossenheit verließen die drei Männer die Zelle, und Roger hörte, wie die Tür zugeschlossen wurde.
XIV
Die vornehmlich Irland gewidmete Etappe in Rogers Leben begann mit einer Reise auf die Kanarischen Inseln im Januar 1913. Je weiter sich das Schiff über den Atlantik vom europäischen Festland entfernte, desto mehr Ballast fiel von ihm ab, verblassten die Bilder aus Iquitos und Putumayo, von den Kautschukstationen, Manaus, den Barbadiern, Julio C. Arana, den Intrigen des Foreign Office, fühlte er sich wieder in der Lage, sich auf Irland zu konzentrieren. Für die Eingeborenen des Amazonasgebietes hatte er getan, was in seiner Macht stand. Arana würde nicht mehr auf die Beine kommen, er hatte seinen guten Ruf und sein Vermögen verloren, und es war nicht ausgeschlossen, dass er den Rest seiner Tage im Gefängnis verbringen würde. Jetzt musste Roger sich um andere Einheimische kümmern, die irischen. Auch für sie galt es, sich von Despoten wie Arana zu befreien, die sie ausbeuteten, wenn auch auf eine raffiniertere, heuchlerischere Art als die peruanischen, kolumbianischen und brasilianischen Kautschukbarone.
Doch trotz der Erleichterung, die ihm die wachsende Distanz zu London verschaffte, machte ihm sowohl auf der Überfahrt als auch während des einmonatigen Aufenthalts in Las Palmas seine Gesundheit zu schaffen. Tag und Nacht verursachte die Arthritis ihm Beschwerden in Hüfte und Rücken, die Schmerztabletten richteten kaum noch etwas aus. Stundenlang lag er im Bett seines Hotelzimmers oder in einem Liegestuhl auf der Terrasse, mit kaltem Schweiß bedeckt. Das Gehen bereitete ihm selbst am Stock Mühe, er konnte, anders als bei früheren Reisen, keine langen Wanderungen durchs Land oder in die Berge unternehmen, aus Angst, unterwegs könnte der Schmerz einsetzen. Seine schönsten Erinnerungen an diesevier Wochen blieben die Stunden, in denen er mit der Lektüre von The Old Irish World , das Alice Stopford Green ihm geliehen hatte, in Irlands Vergangenheit eintauchte. Das Buch handelte von der Geschichte, der Mythologie, den Legenden und Traditionen Irlands und zeichnete das Bild eines abenteuerlustigen, fantasievollen, streitbaren und schöpferischen Volkes, das sich gegen eine raue Natur behaupten musste, seinen Mut in waghalsigen Wettkämpfen bewies, Lieder und Tänze schuf und ein reiches Brauchtum überlieferte. Glücklicherweise war es dem englischen Besatzer nicht gelungen, all dies gänzlich zu zerstören.
Am dritten Tag ging Roger nach dem Abendessen spazieren, durch das Hafenviertel von Las Palmas mit seinen Kaschemmen, Kneipen und Stundenhotels. Im Park Santa Catalina, neben dem Strand Las Canteras, näherte er sich, nachdem er das Terrain sondiert hatte, zwei jungen Männern, die wie Matrosen
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