Der Traum des Kelten
und litt unter Schlafstörungen. Ausgerechnet da erfuhr er, dass The New York World einen Artikel veröffentlicht hatte, in dem stand, dass Sir Roger Casement sich in Berlin befinde und vom Kaiserreich große Geldsummen zur Unterstützung der Rebellion in Irland erhalte. Er schickte einen Protestbrief – »Ich arbeite für Irland, nicht für Deutschland« –, der jedoch nicht abgedruckt wurde. Seine Freunde in New York brachten ihn vondem Vorhaben ab, die Zeitung zu verklagen; er würde den Prozess verlieren, und Clan na Gael sei nicht bereit, Geld für ein Gerichtsverfahren zu vergeuden.
Im Mai 1915 leisteten die deutschen Behörden einer dringenden Bitte Rogers Folge: Am 20. des Monats wurden die fünfzig Freiwilligen der Irischen Brigade aus dem Lager von Limburg, wo sie sich den Anfeindungen ihrer Mitgefangenen ausgesetzt sahen, in das kleine Lager von Zossen bei Berlin verlegt. Zur Feier des Tages hielt Pater Crotty eine Messe ab, und es gab einen kleinen Umtrunk in kameradschaftlicher Atmosphäre, bei dem irische Lieder gesungen wurden. Roger fasste neuen Mut. Er kündigte den Brigadiers an, in einigen Tagen würden sie die von ihm entworfenen Uniformen erhalten, und bald würden irische Offiziere eintreffen, um ihre Ausbildung in die Hand zu nehmen. Sie würden als die erste Kompanie der Irischen Brigade, als die Pioniere einer bedeutenden Unternehmung in die Geschichte eingehen.
Unmittelbar im Anschluss an diese Zusammenkunft schrieb Roger einen weiteren Brief an Joseph McGarrity, in dem er von der Einrichtung des Lagers von Zossen berichtete und sich für die schwarzmalerischen Passagen seines letzten Schreibens entschuldigte. Er habe es in einem Moment der Mutlosigkeit verfasst, doch nun sehe er die Dinge wieder positiver. Joseph Plunketts Besuch und das Lager von Zossen hätten ihm neuen Ansporn gegeben. Er werde weiter am Aufbau der Irischen Brigade arbeiten. So klein sie auch sei, habe sie vor dem Hintergrund des europäischen Krieges doch starke Symbolkraft.
Zu Beginn des Sommers 1915 reiste er nach München. Er stieg im Basler Hof ab, einem einfachen, aber angenehmen Hotel. Die bayerische Hauptstadt deprimierte ihn nicht so sehr wie Berlin, auch wenn er hier noch zurückgezogener lebte. Seine Gesundheit verschlechterte sich zusehends, Schmerzen und Erkältungen hinderten ihn häufig daran, das Zimmer zu verlassen. Er nutzte die Zeit zu intensiver geistiger Arbeit.Dabei trank er ständig Kaffee und rauchte ohne Unterlass starke Zigaretten, die den Raum verqualmten. Er stand in reger Korrespondenz mit seinen Kontakten in der Reichskanzlei und der Heeresleitung und wechselte tägliche Briefe mit Pater Crotty zu spirituellen und religiösen Themen. Die Antworten des Paters las er mehrmals und bewahrte sie auf wie einen kostbaren Schatz. Einmal versuchte er zu beten. Das hatte er seit langem nicht getan, zumindest nicht so ernsthaft. Er versuchte, Gott sein Herz zu öffnen, seine Zweifel und Ängste einzugestehen, seine Furcht, sich geirrt zu haben, und ihn um sein Erbarmen und seinen Beistand für alles Künftige zu bitten. Außerdem fasste er kurze Texte darüber ab, welche Fehler das unabhängige Irland vermeiden müsse, wie es aus der Erfahrung anderer Länder lernen solle, Korruption und Ausbeutung zu vermeiden, und dafür sorgen müsse, dass die Gesellschaft nicht in arm und reich, Mächtige und Hilflose gespalten würde. Doch für Momente verließ ihn der Mut: Was sollte er mit diesen Texten anstellen? Es hatte keinen Sinn, seine Freunde in Irland mit Abhandlungen über die Zukunft zu behelligen, während sie eine so übermächtige Gegenwart bewältigen mussten.
Am Ende des Sommers fühlte er sich etwas besser. Er begab sich zurück in das Lager von Zossen, wo die Soldaten der Brigade inzwischen seine Uniform und an den Mützen das irische Abzeichen trugen. Das Lager machte einen ordentlichen, organisierten Eindruck. Doch die mangelnde Beschäftigung und das Eingesperrtsein zehrten an der Moral der fünfzig Brigadiers, so sehr Pater Crotty sich auch bemühte, ihre Stimmung zu heben. Er organisierte sportliche Wettkämpfe, Unterricht und Vorträge zu verschiedenen Themen. Roger schien der Moment geeignet, ihnen eine Einsatzmöglichkeit vorzuschlagen. Sie setzten sich in einer großen Runde zusammen, und er erläuterte ihnen, wie sie aus Zossen fortkommen könnten. Wenn es ihnen momentan nicht möglich war, in Irland zu kämpfen, warum sollten sie es dann nicht an einem anderen Ort tun, wo um die
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