Der Traum des Kelten
ungnädige Klima, ohne zu verzagen, von einer inneren Ruhelosigkeit getrieben, wie verhext, so sehr hatte er das Gefühl, jeden Tag, jede Stunde in immer tiefere Schichten von Leid und Niedertracht vorzudringen. Ob das die von Dante in der Göttlichen Komödie beschriebene Hölle war? Er hatte das Buch nicht gelesen, schwor sich in jenen Tagen aber, es zu tun, sobald er ein Exemplar in die Hände bekäme.
Die Einheimischen, die zu Beginn seiner Reise, kaum erblickten sie die Henry Reed, fortgelaufen waren, im Glauben, das kleine Dampfschiff brächte Soldaten mit sich, kamen ihm bald entgegen oder schickten Boten, damit er ihre Dörfer besuchte. Es hatte sich unter den Afrikanern herumgesprochen, dass der britische Konsul durch die Region zog, um Klagen und Bitten entgegenzunehmen, und so trugen sie ihm ihre Geschichten vor, eine schlimmer als die andere. Sie hielten ihn für mächtig genug, alles zu verbessern, was im Kongo im Argen lag. Vergebens erklärte er ihnen, dass er keinerlei Macht besaß. Er würde die Welt über die Ungerechtigkeiten und Verbrechen informieren, und Großbritannien und seine Alliierten würden von der belgischen Regierung verlangen, den Missständen einEnde zu bereiten und die Folterer und Kriminellen zu bestrafen. Das sei alles, was er tun könne. Verstanden sie das? Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt zuhörten. Sie hatten ein solches Bedürfnis, die Dinge zu erzählen, die ihnen zugestoßen waren, dass sie seinen Worten gar keine Beachtung schenkten. Verzweiflung und Wut sprudelten aus ihnen hervor, die Dolmetscher mussten sie unterbrechen, sie bitten, langsamer zu sprechen, damit sie ihre Arbeit tun konnten.
Roger hörte zu, machte sich Notizen. Später verbrachte er ganze Nächte damit, auf weiteren Zetteln und in Heften festzuhalten, was er gehört hatte, damit nichts davon verlorenging. Er aß kaum noch etwas. Er befürchtete so sehr, all die vollgeschriebenen Papiere könnten abhandenkommen, dass er nicht mehr wusste, wo er sie verstecken, welche Vorsichtsmaßnahmen er noch treffen sollte. Er sorgte dafür, dass sie sich stets in seiner Nähe befanden, indem er sie einem Träger anvertraute, der sich unter keinen Umständen von ihm entfernen durfte.
Er schlief wenig, und wenn die Müdigkeit ihn übermannte, suchten ihn Albträume heim, versetzten ihn mit ihren Schreckensvisionen in einen trostlosen Zustand, in dem alles den Sinn verlor: seine Familie, seine Freunde, seine Ideen, sein Land, seine Gefühle, seine Arbeit. In diesen Momenten fehlte ihm mehr denn je sein Freund Herbert Ward, mit seiner ansteckenden Begeisterung, seiner optimistischen Fröhlichkeit, der nichts und niemand etwas anhaben konnte.
Lange nach der Reise, als er den Bericht geschrieben, den Kongo verlassen hatte und seine zwanzig Jahre in Afrika eine ferne Erinnerung waren, sagte sich Roger oft, dass, würde man den Ursprung allen sich dort zutragenden Grauens mit einem Wort benennen wollen, es das Wort Habgier wäre. Habgier nach dem schwarzen Gold, das die kongolesischen Urwälder zum Unheil ihrer Bewohner im Überfluss bargen. Dieser Reichtum war der Fluch, der diese Unglückseligen getroffen hatte und der sie, würden die Dinge sich nicht ändern, vom Antlitz der Erde tilgen würde. Zu dieser Schlussfolgerung gelangteer während jener drei Monate und zehn Tage: Wenn der Kautschuk nicht vorher zu Ende ging, würde dieses System das Ende der Kongolesen bedeuten, die davon zu Tausenden und Abertausenden aufgerieben wurden.
Seine Erinnerungen an die Wochen nach ihrer Ankunft am Mantumba-See waren später sehr verworren. Hätte er in seinen Heften nicht so genau Buch geführt, hätte sich in seinem Gedächtnis alles überschlagen. Wenn er die Augen schloss, sah er immer wieder die Bilder von ebenholzfarbenen Körpern vor sich, über deren Schultern, Hinterteile und Beine sich rötliche Narben zogen wie kleine Schlangen, Kinder und Alte mit Armstümpfen und ausgehöhlten Gesichtern, aus denen alles Leben gewichen schien, zu Grimassen verzerrte Gesichter, in denen, mehr noch als Schmerz, die grenzenlose Fassungslosigkeit darüber lag, was ihnen zugefügt wurde. In allen Dörfern und Siedlungen wiederholte sich das ein ums andere Mal.
Die Gründe dafür waren denkbar einfach. Jedem Dorf wurden strenge Auflagen erteilt: wöchentliche oder zweiwöchentliche Quoten an Lebensmitteln – Maniok, Geflügel, Antilopenfleisch, Wildschweine, Ziegen oder Enten – für die Verpflegung der Force
Weitere Kostenlose Bücher