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Der Traum des Kelten

Der Traum des Kelten

Titel: Der Traum des Kelten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vargas Mario LLosa
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Publique in den Garnisonen und der Arbeiter, die Straßen bauten, Telegrafenmasten aufstellten und Anlegestellen und Warendepots errichteten. Außerdem musste jedes Dorf eine bestimmte Menge Kautschuk in selbstgeflochtenen Lianenkörben abgeben. Kamen sie diesen Verpflichtungen nicht nach, drohten unterschiedliche Strafen. Hatten sie weniger als die geforderten Mengen an Lebensmitteln oder Kautschuk geliefert, gab es Hiebe mit der Chicotte , nie weniger als zwanzig, manchmal bis zu fünfzig oder sogar hundert. Viele der so Bestraften verbluteten. Die – wenigen – Eingeborenen, die flüchteten, opferten damit ihre Familien, denn in diesem Fall wurden ihre Frauen als Geiseln in die Maisons d’Otages gebracht, die es in allen Garnisonen der Force Publique gab. Dort wurden sie ausgepeitscht, litten Hunger und Durst und bisweilen so perverse Folterungen wiedie, ihre eigenen Exkremente und die ihrer Wächter herunterwürgen zu müssen.
    Nicht einmal die von der Kolonialmacht – die sich aus den privaten Gesellschaften und denen des Königs zusammensetzte – erlassenen Verfügungen wurden respektiert. Allerorten sah sich das System von ebenden Soldaten und Offizieren, die es zur Anwendung bringen sollten, missbraucht und verschlimmert, denn Militärs und Regierungsbeamte erhöhten in den Dörfern die Quoten, um einen Teil der Lebensmittel und Kautschukkörbe einzubehalten und mit ihrem Verkauf kleine Geschäfte zu tätigen.
    In allen Siedlungen, die Roger besuchte, wurden ihm von den Stammesoberhäuptern die gleichen Klagen vorgetragen: Wenn sämtliche Männer nur Kautschuk sammelten, wie sollten sie dann noch auf die Jagd gehen und Maniok und andere Nahrungsmittel anbauen, um Verwaltung, Vorgesetzten, Wächtern und Arbeitern Verpflegung zu verschaffen? Außerdem versiegte langsam der Kautschuk in den Bäumen, was die Sammler zwang, sich immer tiefer in den Busch zu begeben, in unbekannte, unwirtliche Regionen, wo viele von Leoparden, Löwen oder Schlangen angefallen wurden. Sosehr man sich auch anstrengte, es war unmöglich, alle Forderungen zu erfüllen.
    Am 1. September 1903 wurde Roger neununddreißig Jahre alt. Sie fuhren an diesem Tag den Lopori entlang. Am Vortag hatten sie das Dorf Isi Isulo an den Abhängen des Bongandanga-Bergs hinter sich gelassen. Dieser Geburtstag sollte ihm in unauslöschlicher Erinnerung bleiben, als wäre es die Absicht Gottes oder womöglich des Teufels gewesen, ihm an ebendiesem Tag zu demonstrieren, dass die menschliche Grausamkeit keine Grenzen kannte, immer noch weiter gehen, sich in immer neuen Varianten äußern konnte.
    An diesem Morgen war es bewölkt und Sturm drohte, doch das Gewitter kam nicht zum Ausbruch, und den ganzen Vormittag über war die Atmosphäre wie elektrisiert. Roger wollte gerade frühstücken, als ein Mönch aus der Trappistenmissionvon Coquilhatville zu der improvisierten Anlegestelle kam, an der die Henry Reed lag. Pater Hutot war groß und hager wie eine Figur von El Greco, hatte einen langen, ergrauten Bart, und sein Blick war aufgewühlt von Wut, Entsetzen oder Bestürzung oder allem zugleich.
    »Ich weiß, weshalb Sie in dieser Gegend sind, Herr Konsul«, sagte er auf Französisch und reichte Roger eine knochige Hand. Seine Worte überschlugen sich, so dringend war ihm sein Anliegen. »Ich bitte Sie, begleiten Sie mich in das Dorf Walla. Es liegt nur eine oder eineinhalb Wegstunden von hier entfernt. Sie müssen es mit eigenen Augen sehen.«
    »Gut, mon père «, sagte Roger und nickte. »Aber setzen Sie sich doch bitte, trinken Sie einen Kaffee und essen Sie etwas.«
    Während sie frühstückten, erklärte Hutot dem Konsul, dass die Trappisten der Mission von Coquilhatville die Erlaubnis des Ordens hatten, die ihnen an anderen Orten obliegende strikte Klausur aufzuheben, um den Einheimischen mit einer Hilfe beizustehen, »deren sie so sehr bedürfen in diesem Land, in dem Beelzebub im Begriff scheint, die Schlacht gegen den Herrn zu gewinnen«.
    Der Mönch wirkte aufgebracht, seine Stimme bebte, seine Hände zitterten und sein Blick huschte hin und her, unablässig blinzelte er. Er trug eine einfache Kutte voller Flecken, seine schlammverkrusteten, schrundigen Füße steckten in offenen Sandalen. Pater Hutot lebte seit beinahe zehn Jahren im Kongo. Seit acht Jahren zog er durch die verschiedenen Dörfer der Region. Er hatte den Gipfel des Bongandanga erklommen und war dort einem Leoparden begegnet, der, statt ihn anzufallen, beiseitegetreten und ihm

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