Der Traum des Kelten
eckiges Gesicht immer röter werden ließ. In den darauffolgenden Wochen würde er viele weitere Gespräche mit belgischen, italienischen, französischen und deutschen Offizieren der Force Publique führen und schreckliche Dinge zu hören bekommen, aber jene nächtliche Unterredung mit Hauptmann Massard in Bolobo sollte ihm stets als besonders eindrücklich in Erinnerung bleiben. Irgendwann wurde der Hauptmann sentimental. Er gestand Roger, wie sehr er seine Frau vermisse. Er habe sie seit zwei Jahren nicht gesehen und sie schreibe selten. Vielleicht liebe sie ihn nicht mehr. Womöglich habe sie einen Geliebten. Das wäre an sich nichts Ungewöhnliches. Vielen Offizieren und Beamten, die sich im Dienst für Belgien und seine Majestät, den König, in dieser Hölle lebendig begraben ließen, unter Krankheiten litten, von Schlangen gebissen würden, ohne den geringsten Komfort lebten, ergehe es so. Und wofür das alles? Für einen miserablen Lohn, von dem man kaum etwas beiseitelegen könne. Und danke man ihnen dort in Belgien etwa all die Opfer? Ach was, in der Metropole herrsche ein hartnäckiges Vorurteil gegen die »Kolonialisten«. Die Offiziere und Beamte, die aus der Kolonie zurückkehrten, würden diskriminiert, auf Abstand gehalten, als wären sie durch den Umgang mit den Wilden selbst zu Wilden geworden.
Als Hauptmann Massard sich immer schlüpfrigeren Themen zuwandte, versuchte Roger angewidert, sich zu verabschieden. Doch der Offizier war bereits allzu betrunken, undwollte er ihn nicht verstimmen oder reizen, musste Roger wohl oder übel ausharren. Während er ihm zuhörte und dabei gegen seinen Ekel ankämpfte, sagte er sich, dass er nicht in Bolobo war, um über andere zu richten, sondern um den Dingen nachzugehen und Informationen zu sammeln. Je exakter und ausführlicher sein Bericht wäre, desto wirksamer würde sein Beitrag im Kampf gegen die institutionalisierte Bosheit sein, die im Kongo inzwischen grassierte. Hauptmann Massard bedauerte die jungen Angehörigen der belgischen Armee, die voller Illusionen hierherkämen. Und was war mit ihrem Geschlechtsleben? Sie mussten ihre Verlobten, Ehefrauen und Geliebten in Europa zurücklassen. Und hier? In diesen gottverlassenen Einöden gebe es ja nicht einmal Huren, die diesen Namen verdienten. Nichts außer ein paar grässlichen schwarzen Weibern voller Ungeziefer, die man nur in volltrunkenem Zustand vögeln konnte, wobei man noch riskiere, Filzläuse, einen Tripper oder Syphilis einzufangen. Er beispielsweise habe damit Mühe. Was für ein Desaster, Nom de Dieu ! Nie sei ihm so etwas in Europa passiert! Desaster im Bett, und das ihm, Pierre Massard! Und es war nicht einmal empfehlenswert, sich einen blasen zu lassen, angesichts der spitz gefeilten Zähne, die viele Negerinnen hätten, wer wisse schon, ob sie nicht einmal zubeißen und einen kastrieren würden.
Er fasste sich mit einer obszönen Grimasse zwischen die Beine und lachte laut auf. Roger ergriff die Gelegenheit und stand auf.
»Ich muss mich zurückziehen, Hauptmann. Ich breche morgen früh auf und würde gern noch ein wenig ruhen.«
Der Hauptmann schüttelte mechanisch Rogers Hand, sprach aber mit matter Stimme und glasigen Augen weiter, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben. Als Roger sich entfernte, hörte er den anderen hinter sich murmeln, die militärische Laufbahn eingeschlagen zu haben, sei der größte Fehler seines Lebens gewesen.
Am nächsten Morgen legte die Henry Reed in Richtung Lukolela ab. Roger redete dort drei Tage und drei Nächte beinaheohne Unterlass mit allen möglichen Personen: Beamten, Siedlern, Aufsehern, Eingeborenen. Dann fuhr er weiter bis Ikoko und zum Mantumba-See, an den das riesige »Besitz der Krone« genannte Gebiet grenzte. Ringsum waren die wichtigsten privaten Kautschukunternehmen tätig, die Lulonga Company , die ABIR Company und die Société Anversoise du Commerce au Congo , die über Konzessionen in der gesamten Region verfügte. Roger besuchte Dutzende von Dörfern, am Ufer des großen Sees wie im Inneren des Dschungels. Um zu den Dschungelsiedlungen zu gelangen, mussten sie auf kleine Kanus mit Paddeln oder Stangen umsteigen und anschließend stundenlang durch den finsteren Busch marschieren. Nicht selten wateten sie durch überschwemmtes oder sumpfiges Terrain, das Wasser bis zur Taille, inmitten von Wolken aus Moskitos und unter den lautlosen Silhouetten der Fledermäuse. Wochenlang ertrug Roger Erschöpfung, allerhand Widrigkeiten und das
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