Der Traum des Kelten
Bulldog . Bei einer ihrer Zusammenkünfte kam die Idee auf, die Congo Reform Association zu gründen. Beide waren erstaunt von der breiten Unterstützung, die sie auf der Suche nach Geldgebern und Mitgliedern erfuhren. Kaum einer der Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Geistlichen, die sie um Hilfe baten, verweigerte sie ihnen. So lernte Roger auch Alice Stopford Green kennen. Herbert Ward stellte sie ihm vor. Alice war eine der Ersten, die dem Verein mit ihrem Namen, ihrem Engagement und ihrem Geld halfen. Joseph Conrad und viele weitere Intellektuelle und Künstler taten esihr nach. Als ein finanzieller Grundstock und genügend angesehene Namen zusammengekommen waren, begannen öffentliche Kundgebungen in Kirchen und an anderen Orten, wurden Debatten abgehalten, Zeugenaussagen publiziert, um der Öffentlichkeit die reale Situation im Kongo zu vergegenwärtigen. Als Diplomat konnte Roger zwar nicht offiziell im Vorstand des Vereins agieren, doch kaum hatte er im Foreign Office seinen Bericht vorgelegt, widmete er der Sache alle verfügbare Zeit. Er spendete einen Teil seiner Ersparnisse und seines Gehalts und schrieb Briefe, betrieb Öffentlichkeitsarbeit und erreichte, dass ein Großteil der Diplomaten und Politiker zu Fürsprechern der Sache wurde.
Wenn Roger später an diese fieberhaften Wochen Ende 1903, Anfang 1904 zurückdachte, sagte er sich, dass entscheidend für ihn nicht die Bekanntheit war, die er bereits vor der Veröffentlichung des Berichts erreicht hatte und die noch zunahm, als in der Folge die von Leopold II. beauftragten Agenten ihn in der Presse als Feind und Verleumder Belgiens angriffen. Das Entscheidende war, durch Morel, den Verein und Herbert Alice Stopford Green kennengelernt zu haben. Auf Anhieb hatten beide eine Verbundenheit und eine Zuneigung füreinander verspürt, die sich immer weiter vertiefen sollten.
Bei ihrer zweiten oder dritten Begegnung öffnete Roger der neuen Freundin sein Herz, wie es ein gläubiger Katholik gegenüber seinem Beichtvater getan hätte. Der Irin aus ebenfalls protestantischer Familie wagte er anzuvertrauen, was er bisher noch niemandem gesagt hatte: dass er im Kongo, angesichts all der Ungerechtigkeit und Brutalität, erkannt hatte, welch große Lüge der Kolonialismus war, und dass er sich zum ersten Mal »irisch« gefühlt hatte, also als Bürger eines besetzten und ausgebeuteten Landes, eines durch ein Imperium ausgebluteten und seiner Seele beraubten Irlands. Er schämte sich für so viele Dinge, die er, der väterlichen Erziehung folgend, geglaubt und gesagt hatte. Und er hatte den festen Vorsatz, all das gutzumachen. Nun, da er durch den Kongo Irland entdeckt hatte, wollte er ein richtiger Ire werden, sein Landkennenlernen, alles über seine Geschichte und seine Kultur wissen.
Liebevoll und auch ein wenig mütterlich – sie war siebzehn Jahre älter als er –, ihn bisweilen ob seiner etwas kindlichen Begeisterungsausbrüche rügend, stand Alice Stopford Green ihm mit Rat zur Seite. Sie empfahl ihm Bücher, und ihre Unterhaltungen bei Tee und Gebäck wurden für ihn zu wahren Meisterklassen. In diesen ersten Monaten des Jahres 1904 wurde Alice Stopford Green für ihn zu einer Freundin und Lehrerin, die ihm eine Vergangenheit näherbrachte, in der sich Geschichte, Mythos und Legende – Realität, Religion und Fiktion – vermischten und die Tradition eines Volkes begründeten, das trotz der Unterdrückungspolitik Großbritanniens an seiner Sprache, seiner Lebensart und seinen Bräuchen festhielt, worauf jeder Ire, ob Protestant oder Katholik, gläubig oder ungläubig, liberal oder konservativ, stolz sein konnte. Die Freundschaften mit Morel und Alice taten Roger gut, linderten die seelischen Wunden, die ihm die Reise an den Oberlauf des Kongos zugefügt hatte.
Als Roger, der sich für drei Monate vom Foreign Office hatte beurlauben lassen, eines Tages vor einer Reise nach Dublin Abschied von Alice nahm, sagte sie zu ihm:
»Bist du dir bewusst, dass du berühmt geworden bist, Roger? Ganz London spricht von dir.«
Roger fühlte sich nicht geschmeichelt, er war nie eitel gewesen. Doch Alice hatte recht. Die Veröffentlichung seines Berichts hatte ein enormes Echo in Presse, Parlament, politischen Kreisen und öffentlicher Meinung. Die Angriffe, die in belgischen Zeitungen und von englischen Schmierenschreibern als Propaganda für Leopold II. gegen ihn geführt wurden, untermauerten nur seinen Ruf, ein großer Kämpfer für Menschlichkeit und
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