Der Traum des Satyrs
Tisch, ganz genau beobachtet, um herauszufinden, wie man all die Utensilien, die sorgfältig neben ihrem Teller arrangiert waren, benutzte. Da sie noch nie an einem festlichen Abendessen teilgenommen hatte, war alles neu für sie.
Ein Teller, so hatte sie vermutet, war wohl die Bezeichnung für diese flache schimmernde Scheibe mit dem dünnen Goldrand. Diese Scheiben wurden in regelmäßigen Abständen von Dienern in adretter schwarz-weißer Kleidung entfernt und von einer anderen, ähnlichen Scheibe ersetzt, auf der sich eine andere köstliche Speise befand.
Zuletzt war ihr eine perlenbesetzte Schüssel mit Riffelmuster vorgesetzt worden, die mit einer pinkfarbenen weichen Masse und dicken Erdbeeren gefüllt war. Und während die Bediensteten anscheinend sorgfältig bemüht waren, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, hatte sie sich ebenso sehr bemüht, für sich das genaue Gegenteil zu erreichen.
Vincent hatte ein Lächeln auf seinem schönen Gesicht, als er sich ihr zuwandte und demonstrativ ein mehrzackiges Gerät hob, um anzudeuten, dass sie dieses nun verwenden sollte. Von all den Besteckteilen, die sorgfältig vor jedem Speisenden aufgelegt worden waren, war es das kleinere von den beiden, die nun noch übrig waren.
Cara fuhr mit der Fingerspitze leicht den schlanken glatten Stiel des schimmernden Instruments entlang, über den Kellenansatz bis hin zu dem Teil, der sie faszinierte: An der Spitze teilte es sich in vier Zinken. Sie waren spitz.
»Das ist eine Gabel«, flüsterte ihr jemand zu. Millicent. Die Frau. Ehefrau von Marco.
Irgendwie hatte sie schon gewusst, wie man dieses Gerät nannte. Die Wörter schienen ihr nun leichter in den Sinn zu kommen, wenngleich sie nicht wusste, woher.
Trotzdem hatte sie der Frau dankbar zugelächelt und die Gabel, die sich in ihrer Hand kalt anfühlte, gehoben. Seltsam fasziniert drehte sie sie zwischen den Fingern umher. Kerzenlicht flackerte in goldenem Glanz und blendete sie einen Moment lang.
»Cara?« Das war Vincents Stimme. Vincent, dieser schöne Mann, der sie mit seiner Männlichkeit ausfüllte und ihr seinen Samen schenkte, wenn es ihm gefiel. Der Mann, der ihr ein Kleid gegeben hatte und dessen Augen blau, intelligent und freundlich waren. Der Mann, der sie beschützte. Ihr Schöpfer.
Obwohl er seine Stimme hob, als sie nicht antwortete, erschien ihr Klang seltsam gedämpft. Als er ihren Kosenamen wiederholte, berührte sie seine Lippen mit ihren Fingern, um sich an ihm, an seiner Stimme festzuhalten.
Er packte sie an den Armen und schüttelte sie, und dabei wurde sein Gesichtsausdruck immer besorgter. Immer wieder rief er ihren Namen, aber der Klang seiner Stimme verblasste …
… und wurde von neuen Stimmen übertönt.
Ihr Finger schmerzte. Sie sah nach unten und bemerkte, dass sie noch immer die Gabel in der Hand hielt und eine Fingerspitze fest auf die Zinken gedrückt hatte, bis sie plötzlich ihre Haut aufstachen und vier Blutstropfen herausquollen.
Und dann, urplötzlich und überraschend, stellte sie fest, dass sie fort war. Weggenommen vom Tisch wie vorher die Teller. Weggenommen von Vincent und seiner Familie.
Nun befand sie sich an einem anderen Ort, der traumähnlich und unheimlich war. Sie stand im Schein eines weichen Lichtes. Kerzenlicht. Neun silberne Wachskerzen steckten in einem Leuchter, der auf einem kleinen, sonst leeren Tisch stand. Mit dem Wachs, das an ihnen hinabtropfte, sahen die Kerzen aus wie Schwänze, die gerade langsam ejakulierten. Es war, als würde nur die unmittelbare Umgebung, in der sie sich befand, existieren, und sonst nichts. Keine Entfernung.
Zwei seltsame Pflanzen mit langen Armen schlängelten sich in ihr Blickfeld. Irgendwie fühlte sie, dass sie giftig waren.
Und dann sah sie, dass es sich nicht um Pflanzen, sondern um zwei Männer handelte, die auf einer mit schwarzem Samt gepolsterten Chaiselongue saßen. Obwohl sie fühlte, dass die Männer sie beobachteten, konnte sie selbst aus irgendeinem Grund ihre Gesichter nicht sehen.
»Wie Dornröschen in Grimms Märchen: Sie sticht sich in den Finger und sinkt wieder in tiefen Schlaf«, sagte der größere der beiden Männer.
Er wollte sie. Sogar durch den schweren Weihrauchduft, der in der Luft lag, vermochte sie seine Begierde zu riechen.
Der andere, schlank mit olivfarbener Haut, war an derlei Dingen zwar weniger interessiert, aber er hielt seinen Blick in einer Weise auf sie geheftet, die ihr noch mehr Angst machte als bei dem anderen
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