Der Traum des Satyrs
Bach, der im unteren Teil der Schlucht floss, um sich zu waschen. »Riegelt das Gebiet ab, und durchsucht die nähere Umgebung!«, befahl er.
»Wonach suchen wir?«, fragte der Friedenswächter, der die Wachen anführte.
»Nach dem Amulett, das aus dem Bacchustempel gestohlen wurde.«
Aller Augen weiteten sich und wandten sich überrascht Carlos Leichnam zu. »Er war daran beteiligt?«, wagte ein Soldat zu fragen.
»Bewegung!«, bellte Dominic, und der Trupp machte sich eiligst daran, seine Anweisungen auszuführen, ohne weitere Fragen zu stellen.
Eine gründliche Suche setzte ein, die bis weit in den folgenden Tag dauerte, doch das Amulett blieb verschwunden.
»Hört auf, es ist nicht hier«, wies Dominic die Männer schließlich an. »Die Dämonen haben es.«
Bis dahin hatten sie eine ganze Menge Schaulustiger angezogen – Bauern, Landwirte, drei Ziegen, ein paar Melkerinnen. Selbst die wohlhabenden Insassen einer vorbeifahrenden Kutsche hatten angehalten, um vom Fenster aus zuzusehen. Dominic wusste genau, dass er den Grund für ihr verstohlenes Starren und Flüstern darstellte, doch er schenkte ihnen keine Beachtung.
Ein Vierteljahrhundert lang hatte er seine zweifache Identität vor jedermann außerhalb des Tempels geheim gehalten. Doch der Aufregung nach zu urteilen, die er bei den Schaulustigen hervorrief, wussten alle hier von dem Schauspiel, das er in jener Nacht in der Erdenwelt geboten hatte.
Diese Nacht hatte sein Volk in Gefahr gebracht, und sie hatte seine sinnliche Schwäche für eine Frau enthüllt, die ihn nicht wollte. Er wusste nicht, was ihn mehr beunruhigte.
»Wohin mit seinen Überresten?«, fragte ein Soldat und nickte mit dem Kopf in Richtung Carlo. Sein Leichnam war eingewickelt, aber noch nicht zur Verbrennung weggebracht worden.
»Zu seiner Familie. In der Erdenwelt. Sendet seine Asche an Nicholas, den Ältesten der Herren von Satyr, die dort leben. Und schickt eine Nachricht von mir mit, dass ich darum bitte, durchs Tor kommen zu dürfen, um mich so bald wie möglich mit ihm zu treffen.«
Dominic richtete sich zu voller Größe auf, und erst jetzt erlaubte er sich, die gesamten Auswirkungen von Carlos Tod zu überdenken.
Emma.
Sein Herz setzte einen Schlag lang aus.
Sie war Witwe.
15
Weingut Satyr, Toskana, Italien
Erdenwelt
Ich gehe fort von hier«, verkündete Emma. Wie gut es sich doch anfühlte, es laut auszusprechen!
Doch niemand antwortete auf ihre überraschende Ankündigung, keine Debatte setzte ein – einfach deshalb, weil sich in ihrer unmittelbaren Nähe niemand befand, der sie hören konnte, außer Schmetterlingen, Vögeln, zwei schlanken Gazellen und ihrer drei Wochen alten Tochter Rosetta.
Von deren Gesellschaft einmal abgesehen, saß Emma allein auf dem üppigen blaugrünen Rasen hinter dem Kutschenhäuschen, das nun seit etwas mehr als einem Jahr ihr Heim war. Und obwohl die Sprenkel des Sonnenlichts ihre Umgebung fröhlich wirken ließen, war sie selbst alles andere als fröhlich.
Auf dem Schoß ihres Kleides aus dunkler Bombazine lag ein Brief, den sie nun schon ein Dutzend Male gelesen hatte. Er war in ordentlicher Handschrift und in klaren und sorgfältig gewählten Worten gehalten, verfasst von einem vermögenden älteren Gentleman.
Sein wortreicher Inhalt bot ihr eine einzigartige Gelegenheit.
Sie seufzte und schaukelte mit einer Hand das Körbchen ihrer Tochter. »Was meinst du, Rose? Sollen wir nach London gehen? Wird es noch der Ort sein, den ich vor fünfzehn Jahren verlassen habe?«
Sie saßen inmitten eines kreisrunden Blumenbeets, das in zwölf gleich große Segmente aufgeteilt war. Früher war es gewissenhaft gepflegt worden, doch nun waren die Blumen, die hier wuchsen, in kleine Schnipsel zerfetzt und lagen wie buntes Konfetti auf dem Hof herum. Emmas Schuld an dieser Zerstörung war deutlich an ihren Händen zu erkennen, die mit einem Gemisch purpurner, gelber, karminroter, kobaltblauer und jadegrüner Flecken bedeckt waren.
Als junges Mädchen hatte sie einmal ein Blumenhorologium entworfen – eine Uhr, die auf einer Beschreibung in dem Buch
Philosophia Botanica
beruhte, einem bahnbrechenden botanischen Werk von Carl Linnaeus. Daran hatte sie die Zeit ablesen können, indem sie einfach das Blühen und Verwelken verschiedener Wildblumen beobachtete.
Diesen etwas aufwendigeren Garten hatte sie vor einem Jahr angelegt. An dem Tag nach ihrer Hochzeit mit Carlo. Dem Tag, an dem er in die Anderwelt und in den Krieg gezogen
Weitere Kostenlose Bücher