Der Traum des Satyrs
Erscheinung in sich auf. Sie registrierte seine selbstsichere Kraft, seinen wachsamen Blick aus quecksilbernen Augen, die mitternachtsblauen Strähnen in seinem dunklen Haar. Er wirkte selbstsicher und gefährlich attraktiv.
Es war drei Wochen her, seit sie ihn gesehen hatte. Drei lange, dürre Wochen, seit sie so intim miteinander gewesen waren, wie Mann und Frau nur sein konnten.
Und jetzt – unmöglich! – war er hier. Im Haus ihrer Schwester. Im selben
salotto
wie sie. Und er saß auf einem Stuhl aus dem Mittelalter, eines von Nicholas’ Sammlerstücken – und zugleich der unbequemste Stuhl, den er besaß. Dass Jane ihm ausgerechnet diesen Stuhl angeboten hatte, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie nicht so entzückt über seinen Besuch war, wie es klang.
Was wollte er nur hier?
Jordan und Juliette waren am Morgen nach Florenz gereist und würden nicht vor morgen Nacht zurückkehren. Während ihrer Abwesenheit bestand die Gesellschaft, die sich zum Abendessen und um sich zu unterhalten, hier im
castello
eingefunden hatte, nur aus Jane, den drei Herren von Satyr und ihr selbst.
»Möchten Sie etwas von dem Sangiovese?«, hörte sie Nicholas fragen.
»Grazie.«
Dominics tiefe Stimme löste bei Emma ein Prickeln im Nacken aus – dort, wo er sie geküsst hatte. Ihre Blicke trafen sich. Er sah zu ihrem Hals, und ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Lippen.
Ohne es zu bemerken, hatte sie begonnen, mit der Hand über genau die Stelle ihrer Haut zu streichen, die sein Mund markiert hatte. Verlegen zog sie die Hand dort weg und richtete unnötigerweise ihre Brille, die sie eben erst aufgesetzt hatte, um ein Stück aus einer Oper von Giovanni Paisiello vorzuspielen. Dann nahm sie die Notenblätter vom Ständer, legte sie auf ihren Schoß und blätterte sie mit zitternden Fingern durch.
In dem allgemeinen Trubel der Begrüßungen fiel niemandem ihr Rückzug angesichts des Neuankömmlings auf. Nach allem, was sie wussten, war er nur ein flüchtiger Bekannter, der ihr bei einer früheren Gelegenheit kurz vorgestellt worden war. In der Nacht, in der Rose geboren worden war.
»Emma wollte uns noch etwas mitteilen, bevor sie uns vorspielt.« Als Nicholas’ Stimme erklang, richteten Emmas ausdruckslose Augen sich auf die elfenbeinfarbenen Tasten vor ihr, und ihre Finger spielten an den Seiten in ihrem Schoß herum.
»Emma?«, forderte Jane sie auf.
Emma straffte den Rücken. Sie verhielt sich lächerlich. Natürlich würde sie ihre Pläne nicht zurückstellen, nur weil Dominic hierhergekommen war! Er hatte nichts mit ihr zu tun. Sie würde bald abreisen, und sie hatte Vorkehrungen dafür zu treffen.
Entschlossen legte sie die Blätter auf den Notenständer des Pianos.
»Ich habe beschlossen, das Gut zu verlassen. Ich gehe nach London«, hörte sie sich sagen.
Es war, als ob dem Raum auf einmal alle Luft entzogen würde – von allen Anwesenden, die Luft holten, um den Einwänden, die um sie herum aufbranden wollten, eine Stimme zu verleihen.
»Ich fahre nächste Woche«, fuhr sie hastig fort. »Ich habe eine Vereinbarung bezüglich einer Anstellung getroffen …«
»Was zum Teufel …?«, protestierte Lyon.
»Emma! Wieso?«, fiel Jane gleichzeitig ein.
»Lasst sie ausreden!«, brachte Nicholas sie zum Schweigen.
»Ich habe eine Anstellung für ein Jahr in der Bibliothek eines Gentlemans.« In einer kurzen Schilderung umriss Emma grob die Details und schloss: »Ich weiß, ihr haltet das für eine schlechte Idee, aber ich bin entschlossen. Ich möchte euch nicht länger zur Last fallen.«
»Aber du bist keine Last für uns!«, rief Jane aus.
»Du bist eine unschuldige Witwe mit einem Kind«, entgegnete Lyon finster. »Leichte Beute.«
Ein einzelnes scharfes Knacken erklang, und alle Blicke wandten sich Dominic zu. Seine rechte Hand hatte sich so fest um sein Weinglas geballt, dass er den fast drei Zentimeter dicken Stiel aus solidem Kristall glatt zerbrochen hatte!
»Er hat recht«, brummte Dominic, ohne die Bediensteten zu beachten, die herbeieilten, um den angerichteten Schaden zu beseitigen.
Stirnrunzelnd sah Emma auf seine Hand, während die Überreste des Glases entfernt und der verschüttete Wein weggewischt wurden. Heute Nacht trug er diesen seltsamen Handschuh offenbar nicht. Dennoch schien er sich an den Glasscherben nicht verletzt zu haben. »Das ist nicht Eure Angelegenheit, Signore. Ich bin eine erwachsene Frau und in der Lage, meine eigenen Entscheidungen zu
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