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Der Traum des Satyrs

Der Traum des Satyrs

Titel: Der Traum des Satyrs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Amber
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war.
    Er hatte als Kalender fungiert, an dem man nicht die Tage, sondern vielmehr die Monate ablesen konnte. Die Blumen, die in jedem Pflanzgefäß wuchsen, waren akkurat ausgewählt worden, um dem Muster von Carlos Ankunft und Abreise jeden Monat zu folgen. Sie blühten zu Vollmond und verwelkten danach. Es war das Geschenk einer Ehefrau an ihren Gatten gewesen, eine physische Darstellung ihrer gespannten Erwartung seiner seltenen Besuche in ihrem Bett.
    Im Verlauf ihrer Ehe war der Zyklus nur ein Mal vollendet worden. Nur zwölf Mal in einem Jahr war er ihr ein Ehemann gewesen.
    Und es lag nur wenige Augenblicke zurück, seit die welken Primeln vom Februar, die Veilchen vom März und ein paar frühe Gänseblümchen vom April aus der Erde gerissen worden waren und nun um Emma herum verstreut lagen. Schließlich gab es nun keinen Anlass mehr, zu messen, wie die Zeit verging.
    Carlo war tot.
    Ihre fleckigen Hände hinterließen Fingerabdrücke auf dem Brief, als sie ihn erneut auseinanderfaltete.
     
    Seien Sie gegrüßt, verehrte Madame,
     
    es ist mir ein überaus großes Vergnügen, Sie nach London einzuladen, um mich bei meinen glorreichen Bemühungen zu unterstützen. Ihre Liebe zum geschriebenen Wort, die ebenso aufrichtig und klar erkennbar ist wie meine eigene, Ihre Kenntnis des Lateinischen sowie die Erfahrung, die Sie durch die Mithilfe bei der Organisation der Bücherei von Herrn Nicholas Satyr gesammelt haben, empfehlen Sie für die Aufgabe, die ich zu vergeben habe. Die Bibliothek, die ich kürzlich geerbt habe, befindet sich in einem Zustand völliger Unordnung, und das Angebot Ihrer Dienste stellt für mich somit einen höchst willkommenen Zufall dar.
     
    So ging der Brief noch über mehrere Abschnitte weiter, und dann …
     
    Die Stellung, die ich Ihnen in aller Bescheidenheit antragen möchte, ist, wie ich bereits vorher erwähnte, für die Dauer eines Jahres gedacht. Wenn Sie damit einverstanden sind, möchte ich Sie bitten, sich in meinen Geschäftsräumen in der Whitehall Street Nr.  12 in London einzufinden, sobald es Ihnen genehm ist.
    Bitte akzeptieren Sie bis dahin meine besten Wünsche für eine sichere Reise und gute Gesundheit in den kommenden Wochen bis zu unserem Kennenlernen.
    Lord Anthony George Randolph Stanton
     
    Würde ihr Dienstherr sich als ebenso langatmiger Redner erweisen? Der Brief war gestern aus London angekommen, und sein Schreiber hatte ihn vor drei Wochen verfasst – an ebenjenem Tag, an dem Rose geboren worden war. Er beinhaltete die Antwort auf ihre Anfrage um Beschäftigung, die sie schon lange bevor ihre Tochter gezeugt worden war, abgeschickt hatte.
    Sie sollte Lord Stanton über die Geburt ihrer Tochter in Kenntnis setzen, bevor sie sich auf die Reise begab, doch ein Briefaustausch konnte Wochen dauern. Er schien ein Herr von der aufgeschlossenen Sorte zu sein, wenn er eine Frau als seine Assistentin akzeptierte. Also entschied Emma, wie geplant fortzufahren, in der Hoffnung, dass er auch ihr Kind tolerieren würde. Sollte das nicht der Fall sein, würde sie sich in London nach einer anderen Anstellung umsehen und nur dann hierher zurückkommen, falls sich nichts finden ließe.
    Heute Nacht würde sie der Familie ihre Entscheidung mitteilen. Sie war entschlossen, nicht hierzubleiben und zu einer nutzlosen Last für sie zu werden. Sie wollte wahrhaft nützlich sein und ihrer Leidenschaft für Bücher frönen.
    Die Familie würde überrascht wegen ihres Entschlusses sein, sie zu verlassen, und man würde erwarten, dass sie auf deren Einwände hin ihre Pläne änderte. Schließlich war sie immer unproblematisch gewesen. Gehorsam.
    Sie erspähte eine Feuerlilie im Gras, nahm sie auf und fuhr mit der Fingerspitze über einen zarten Staubfaden, um ihn mit den Pollen eines Staubbeutels zu bestäuben. Die Staubbeutel – männliche Sexualorgane.
    Dominic.
    Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und Emma fröstelte. Etwa eine Woche nachdem Dominic gegangen war, hatte er Carlos Überreste durch das Portal gesandt. Ein zusammengerolltes Pergament war beigefügt gewesen. Es war an Nicholas adressiert und enthielt die Erklärung, dass die Umstände von Carlos Tod unbekannt wären. Eine Nachricht an sie hatte der Brief nicht enthalten.
    Als Emma bemerkte, dass sie mit den weichen dunklen Blütenblättern der Lilie über ihr Schlüsselbein fuhr – dort, wo Dominics Lippen entlanggewandert waren –, errötete sie und schleuderte die Blume von sich. Mit dem Finger fuhr sie

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