Der Traum des Schattens
Teich. Ein gedämpfter Schimmer hing über dem Märchenschloss, glühender Nebel umspielte die Türme.
» Das ist ja unglaublich«, flüsterte sie. Ehrfürchtig folgte sie ihm durch den Park.
» Liebst du diese Stadt?«
» Natürlich, was denkst du denn?«
» Dann solltest du wissen, dass Kunun dabei ist, sie zu vernichten.«
Sie erschrak. » Was ist denn das schon wieder für ein Unsinn?«
» Du liebst mich nicht«, sagte er leise. » Langsam bezweifle ich, ob die Zeit reicht, um das zu ändern. Vielleicht genügt es ja auch, wenn du erkennst, wofür ich eintrete und wofür er steht. Kunun wird Magyria in den Abgrund reißen, und dabei wird auch Budapest zerstört werden.«
Hanna blieb stehen. » Du lügst. So ist er nicht. Wir sind Schatten und keine Pfadfinder, klar, aber warum sollte der König von Magyria sein eigenes Land vernichten? Das ergibt alles keinen Sinn. Du denkst dir das nur aus, um mich zu verwirren.«
» Warum er das tun sollte? Vermutlich aus demselben Grund, warum er seine Mutter gefangen gehalten und ihren Verstand zerstört hat oder warum er seinen Vater umbringen wollte: weil er nicht anders kann. Weil er ein strahlender Prinz des Lichts war und es nicht erträgt, wenn irgendwo auch nur die kleinste Flamme leuchtet. Weil er verloren ist und es weiß und weil er nicht untergehen will, ohne alles andere mitzunehmen?« Er schnaubte wütend. » Was weiß ich denn, warum! Bin ich sein Psychiater? Er ist bloß mein Bruder, er ist verrückt, und ich muss ihn aufhalten.«
» Du willst seinen Thron, das ist es«, sagte Hanna, nachdem sie ein paar Mal tief durchatmet hatte, um sich zu beruhigen. » Er hat es mir selbst gesagt. Du solltest der nächste König sein und nimmst ihm übel, dass er die älteren Rechte hat. Kein Wunder, dass du ihn in so einem schwarzen Licht siehst.«
» Ich will den Thron nicht«, stieß Mattim hervor. » Darum geht es gar nicht. Ich und König sein? Stell mich mein Leben lang auf die Brücke, und ich bin zufrieden, aber beim Licht, es soll das Akink sein, das ich kenne, über das ich wache. Es soll Abend werden und Morgen und jede Nacht voller Sterne. Soll ich dir schwören, dass mir nichts an dieser Krone liegt? Bei was soll ich es schwören?«
Sie betrachtete ihn stirnrunzelnd. Wenn er sich aufregte, mochte sie ihn merkwürdigerweise am liebsten. Ja, fügte sie im Stillen hinzu, und wenn er frustriert ist und verzweifelt und wenn er lacht und wenn er in der Sonne schläft und wenn er kämpft und überhaupt immer.
» Mattim«, sagte sie sanft, » Kunun ist ein guter König, der sich um sein Volk kümmert. Entspann dich. Er macht gute Arbeit, vertrau ihm einfach.«
Diesmal atmete er tief durch. Eine Weile ging er schweigend neben ihr her, und als er wieder anfing zu reden, nahm er glücklicherweise ein anderes Thema in Angriff.
» Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Ich bin nett, versprochen. Das ist nur eine ganz normale Frage, klar?«
Eigentlich wollte Hanna gar nicht über Kunun nachdenken. » Das ist eine lange Geschichte.«
» Wann hast du angefangen, ihn zu lieben?«
» Ich… ich weiß es nicht.« Irgendetwas lief hier völlig falsch. » Was geht dich das an? Was weißt du schon von Liebe, he?«
» Genug«, sagte Mattim leise.
» Das zwischen dir und Mirita ist ja wohl keine Liebe. Sonst würdest du mir nicht ständig nachlaufen.«
» Hanna…«
Das Sonnenlicht fiel zwischen den Blättern hindurch und malte Muster auf sein Haar und seine makellose Haut. Wieder fragte sie sich, wie es wohl wäre, ihn zu küssen, und ob sie es bereuen würde. Bestimmt würde sie das. Sie würde es Kunun beichten müssen, und dann würde er Mattim endgültig wegschicken. Vielleicht war das sogar die beste Lösung, um ein für alle Mal Klarheit zu schaffen– ihn aus ihrem Leben zu verbannen.
» Hanna«, sagte er noch einmal, und ihr fiel auf, dass sie ihn unverschämt lange gemustert hatte. » Erinnerst du dich denn wirklich an gar nichts?«
» Wie meinst du das? Woran sollte ich mich erinnern?«
» Dort drüben sind wir Schlittschuh gelaufen, weißt du noch?«
Sie forschte in ihrem Gedächtnis. » Woher weißt du das? Hast du mich etwa schon damals beobachtet? Ich war tatsächlich einmal hier, mit Attila und seinen Freunden. Es war ein wunderbarer Nachmittag.«
» Attila hatte Geburtstag«, sagte Mattim. » Es war der fünfzehnte Februar. Erinnerst du dich?«
Diesmal blieb sie stehen. » Führst du Buch über mich? Du bist verrückt. Kunun hat recht,
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