Der Traum des Schattens
vertraue Hanna voll und ganz.«
» Réka kann Hannas Gefühle spüren«, sagte Atschorek. » Das wusstest du doch, oder? Die beiden sind miteinander verbunden. Hör auf, blind zu sein, Kunun. Du wusstest von Anfang an, dass es ein großes Risiko ist, Mattim am Leben zu lassen. Du hättest mir erlauben sollen, es viel früher zu beenden.«
» Was willst du?«, fragte er. Nichts an seiner Stimme oder seinem Gesicht verriet, ob er ihr glaubte oder nicht.
» Ich will sie jagen«, sagte Atschorek. » Alle beide. Gib mir die Erlaubnis, und ich bringe sie zur Strecke.«
» Dazu kenne ich dich zu gut, liebe Schwester. Du bist zerfressen vor Eifersucht. Die Sache kommt dir doch gerade recht.«
Atschorek senkte den Kopf zu einem Nicken. Wut sprühte aus ihren Augen, aber sie beherrschte sich. » Dieses Miststück Hanna führt dich an der Nase herum, Kunun. Du willst es bloß nicht merken. Du willst blind sein. Nun denn, es ist deine Wahl. Wir sehen uns.« Sie brachte die Andeutung einer Verbeugung zustande und rauschte aus dem Zimmer.
» Und du, Réka? Was soll ich davon halten, dass du angekrochen kommst, um Hanna anzuschwärzen? Was versprichst du dir davon?« Einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen. » Hast du denn einen Beweis? Das würde mich sehr wundern.«
» Ich habe viele widersprüchliche Gefühle von Hanna empfangen. Glück, Liebe, aber auch Unglück, Zweifel und Schuldgefühle.«
» Vielleicht hat sie mich geliebt, wenn sie glücklich war, vielleicht hat sie sich schuldig gefühlt, wenn sie jemanden gebissen hat. Das heißt gar nichts.«
» Sie liebt dich nicht!«
» Wenn es Mattim nie gegeben hätte, dann hätte sie mich gewählt«, sagte er. » Den Beweis habe ich erbracht, nicht wahr? Ich habe Hanna zu nichts gezwungen, und sie ist trotzdem bei mir geblieben. Wenn sie sich an nichts erinnert… und das tut sie doch nicht, oder?«
» Nein«, bestätigte Réka leise, » tut sie nicht.«
» Wo Mattims Name war, habe ich Leere zurückgelassen. Ich habe ihn aus ihr herausgebrannt. Jetzt bin ich ihr Glück. Wenn du spürst, dass sie glücklich ist, dass sie verliebt ist, dann in mich. Das erste Mal in meinem Leben werde ich geliebt als derjenige, der ich bin.«
» Ich habe dich auch geliebt!«
» Das zählt nicht«, sagte er. Es klang nicht einmal schroff, bloß erschreckend endgültig. » Ich habe dich so oft gebissen… Du hattest keine Wahl.«
» Nein«, protestierte sie, » seit ich dich das erste Mal gesehen habe…«
Er unterbrach sie mitleidslos. » Du kannst diese Liebe zwischen mir und Hanna nicht ertragen, genau wie Atschorek sie nicht ertragen kann.« Als er die Fäuste ballte, zog Réka ihre Hand vorsichtig zurück. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie ihre Finger auf seine gelegt hatte.
» Ich bin das Schicksal«, sagte er. » Ich bin derjenige, der die Macht hat, darüber zu entscheiden, wen Hanna liebt!«
» Liebt?«, schrie Réka.
Er sprang auf, versetzte dem Sessel einen Fußtritt, der ihn mehrere Meter weiterrutschen ließ, und trat vor den neuen, üppig umrahmten mannshohen Spiegel. Darin war seine hochgewachsene Gestalt zu sehen und dahinter zusammengekauert das junge Mädchen mit den kurzen dunklen Haaren und dem bleichen Gesicht– ein Dämon mit einer gruseligen Fratze und eine liebliche Elfe aus einer anderen Welt.
Kunun blickte auf sie herab und schwieg. Das Schweigen breitete sich um ihn aus, und Réka erschrak vor den vielen Antworten in der Stille, die sie nicht hören wollte und denen sie dennoch nicht entgehen konnte. Es war nicht möglich, dass Kunun sich ernsthaft in Hanna verliebt hatte. Ganz und gar unmöglich, dass er sie liebte. Ausgerechnet Kunun!
Er konnte überhaupt nicht lieben. Niemanden.
Sie zwang sich dazu, sich so hoch aufzurichten wie nur möglich und im Spiegel eine junge Frau erscheinen zu lassen, die selbstbewusst und kämpferisch wirkte. Trotzdem zitterte ihre Stimme, als sie seinen Namen aussprach. » Kunun, offensichtlich bist du unbelehrbar. Nur beschwer dich später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
» Wie kannst du es wagen herzukommen, um mir das Einzige kaputtzumachen, was ich jemals hatte? Das Einzige, was meinem Leben Bedeutung verleiht? Hast du vor, das Licht meines Lebens dunkel zu machen? Denn das ist sie für mich. Sie. Und nicht du.«
Sie zwang sich, aufzustehen und das Kinn nach vorne zu recken. Die Frau im Spiegel wirkte nun schon weniger kleinlaut, weniger verzweifelt. Sie sah tatsächlich beinahe nach einer Frau aus,
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