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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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ihre Fingerspitzen durch das lackierte Holz drangen wie durch Wasser. Es war das erste Mal, dass es klappte.
    Sie tauchte ganz hinein und fand sich in der Wohnung wieder. Die Leuchtziffern des Radioweckers strahlten rot. Mónika schlief unruhig, sie seufzte im Schlaf. Attila dagegen schlummerte tief und fest, den Kopf ins Kissen gepresst. Hanna beugte sich über ihn und lauschte seinen tiefen Atemzügen. Er war ein gutes Stück gewachsen, fiel ihr auf. Am liebsten hätte sie sich auf die Bettkante gesetzt und ihm eine Geschichte erzählt, so wie früher.
    Was tue ich hier eigentlich? Das ist nicht meine Familie. Das ist nicht mein kleiner Bruder. Warum muss ich dann nachsehen, ob mit ihm alles in Ordnung ist, ob er auch schon von einem Ziegelstein getroffen oder einem Baum erschlagen worden ist?
    Vielleicht war sie hier, um Abschied zu nehmen, um ein für alle Mal zu erkennen, dass es in ihrem Leben nicht mehr um Menschen ging. Nicht um Mattim, nicht um Attila– um keinen von ihnen. Es ging nicht um Gefühle, nicht um Freundschaft oder das, was sich so leicht mit Liebe verwechseln ließ. Sie gehörte zu Kunun, und wenn er diese Welt in eine Welt der Schatten verwandeln wollte, wer war sie, sich ihm in den Weg zu stellen? Sollten seine Träume nicht auch ihre sein? Sie liebte es, ein Schatten zu sein, warum um alles in der Welt konnte sie sich dann nicht wünschen, dass ihre Freunde verwandelt wurden? Dass Magyria über Budapest hereinbrach mit der Gewalt von Wurzeln und Bäumen, die hier nicht hingehörten, mit dem Geruch von frischem Blut und uraltem Entsetzen?
    Sie beugte sich über Attila und küsste ihn auf die Wange. Er roch nach Kaugummi, vielleicht klebte noch irgendein Rest in seinen Haaren. Eine solche Zärtlichkeit überkam sie, dass sie darüber erschrak.
    Wenn sie Kunun liebte, durfte sie keinen Menschen lieben. Nur an seiner Seite war das Glück zu finden. Warum konnte sie dann nicht aufhören, dieses Kind zu lieben? Er war nicht mal ihr Bruder. Er war… gar nichts. Als Schatten hätte sie darüberstehen müssen.
    » Hanna?«, flüsterte der Junge. » Bist du das?«
    Kaum zu glauben, dass diese Stimme einem Kind gehörte, für das Schreien die normale Lautstärke war.
    » Ja«, wisperte sie zurück.
    » Bleibst du jetzt bei uns?« Er setzte sich auf und schlang beide Arme um sie. Weder fragte er, wie sie hier reingekommen war, noch wo sie gesteckt hatte.
    » Nein«, sagte sie, » nein, ich kann nicht. Ich wollte nur… Richtest du Mattim etwas von mir aus? Im Park, morgen, zur selben Uhrzeit.«
    » Klar, mach ich«, versicherte er.
    » Leb wohl, Attila«, flüsterte sie und verließ die Wohnung, wie sie gekommen war, durch den Schatten.
    Mattim zu helfen war Verrat, aber sie hatte keine andere Wahl, denn wie konnte sie zulassen, dass dieses Kind in einer Stadt des Schreckens aufwuchs?
    Um Längen überragten die fremden, gigantischen Bäume alle anderen Parkbäume. Ein vergeblicher Wunsch, sie mochten einfach von selbst verschwunden sein. Wenigstens das Blut und die Leichenteile waren fort, und jemand hatte ein Absperrband um die Stämme geschlungen, als könnte das etwas nützen.
    Hanna wandte den Blick ab und ging hastig weiter. Zuerst dachte sie, er hätte sie sitzenlassen, und Zorn strömte durch ihre Adern. Vor der Bank, auf der sie und Mattim so lange verweilt hatten, standen ein paar Fremde. Es waren fünf Männer zwischen zwanzig und vierzig, die sich herumschubsten, allesamt Schatten und aggressiv. Sie beschloss, einen weiten Bogen um sie zu machen. Dann fiel ihr auf, dass die Ausstrahlung eines Menschen fehlte. Wen hatten sie da vor sich, wenn kein Opfer?
    Sofort rannte sie auf die Gruppe zu. Die hungrigen Vampire umringten einen jungen Mann mit blondem Haar, der angesichts der Bedrohung bemerkenswert ruhig blieb.
    Merkten sie denn nicht, dass er nicht das wunderbare, sonnengeflutete Leben in sich trug wie die anderen Menschen hier, sondern dass die Aura, die ihn umgab, seltsam still und dunkel war, schattengrau, als wäre er eine einsame Sonne, von Wolken verhüllt? Dabei konnte er leuchten wie ein Stern, wenn er glücklich war.
    » Das ist unsere Beute«, sagte einer und entblößte seine ausgefahrenen Fangzähne. » Geh weiter, Mädchen.«
    » Lass nur.« Mattim ließ seine Gegner auch beim Sprechen nicht aus den Augen. » Mit denen werde ich schon alleine fertig.«
    » Er gehört mir.« Hanna drängte sich zwischen die Männer und legte Mattim besitzergreifend eine Hand auf die

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