Der Traum des Schattens
als wäre es zum ersten Mal, vorsichtig, forschend, als erkundete er eine Welt, die er zuvor nicht gekannt hatte. » Weißt du, dass ich der glücklichste Mann auf Erden bin? Das alles nur, weil du mich ansiehst wie jetzt. In deinen Augen ist mehr, als ich mir je habe träumen lassen. Ich könnte vergessen, meinen Krieg zu führen, ich könnte alles vergessen, wenn ich nur dich habe.«
Hinter ihnen räusperte sich jemand.
Kunun sprach ihn an, ohne sich umzudrehen. » Was ist, Rubian? Rede.«
» Hauptmann Solta ist mit Prinz Mattim verschwunden. Sie haben auf der Flucht drei unserer Krieger verletzt und sind entkommen.«
» Was wirst du jetzt tun?«, fragte Hanna bang.
Kunun dachte nach, während er sie vom Ufer zur Brücke führte, vor der, wie ihr erst jetzt auffiel, einer der großen steinernen Löwen wachte, die zur Budapester Kettenbrücke gehörten. Über dem Donua hing immer noch ein schwaches Leuchten, das sich allmählich verflüchtigte, wie die Seele eines Toten, die sich noch nicht von ihrer alten Existenz trennen mochte.
» Ich habe Mattim unterschätzt. Dass er es wirklich fertiggebracht hat, einen Anschlag auf mich zu verüben, ist erstaunlich. Eine Überraschung, in der Tat. Ich könnte jetzt die Jagd auf ihn eröffnen, ihm sämtliche Schatten auf den Hals hetzen.«
» Aber das wirst du nicht tun?«
» Er ist ein Brudermörder«, meinte Kunun, » ich nicht. Das ist der Unterschied zwischen uns.«
» Mattim ist gefährlich!«, protestierte sie. » Du kannst ihn doch nicht einfach davonkommen lassen! Was, wenn er es wieder versucht?«
» Bald gibt es kein Hier und Dort mehr, keine Pforten, keine Grenzen, nur noch die Stadt der Schatten.« Er legte eine Hand an die Pfote des Löwen. » Das wird die schlimmste Strafe sein, die ich Mattim auferlegen kann: zu sehen, was geschieht, zu erkennen, dass er mich nicht aufhalten kann. Ich werde ihn spüren lassen, was er getan hat, keine Sorge. Aber ich habe Zeit, Hanna. Ich bin nicht wie er. Ich bin ein Schatten, mir steht eine ganze Ewigkeit zur Verfügung.«
Siedend heiß fiel ihr ein, was sie getan hatte.
» Was, wenn er es dennoch aufhalten kann?«, fragte sie. » Wenn er einen Weg findet? Wenn er ein Lichtkind sucht, mit dessen Hilfe er Akink einnehmen kann?«
Ein Schatten zog über Kununs Gesicht. » Was? Wovon sprichst du? Woher weißt du davon?«
Sie liebte ihn viel zu sehr, um ihm zu verraten, was sie getan hatte, um zuzugeben, dass sie seinen Bruder getroffen und ein Bündnis mit ihm geschlossen hatte. Weitaus schlimmer war, dass sie Mattim umarmt hatte, beinahe geküsst, und dass sie süchtig war nach dem Geschmack seines Blutes. Sie liebte Kunun viel zu sehr, um sein Glück in diesem Moment zu zerstören.
» Von den Szigethys«, log sie. » Ich war ab und zu dort, und Mattim hat auch Kontakt zu der Familie. Er sucht dein Kind, Kunun.«
Sie war auf einen Wutausbruch gefasst, doch er nahm es mit Humor. » Dann soll er es suchen. Viel Spaß, kleiner Bruder. Deine Hoffnung ist meine Rache, deine Verzweiflung ist mein Vergnügen.«
Er schloss Hanna in die Arme. Sein Kuss war voller Leidenschaft, und während der Geschmack des Winters sich verflüchtigte, blühte etwas Bitteres zwischen ihnen auf, schwer und dunkel wie schwarze Rosen.
Sie fühlte eine seltsame kribbelnde Erregung. » Demnach hat er keine Chance? Budapest und Akink werden also tatsächlich eins? Sie lösen sich auf?«
» Sie verschmelzen miteinander«, sagte er leise. » Warum auch nicht? Schon jetzt können wir als Schatten in Budapest leben und brauchen die Sonne nicht zu fürchten, jedenfalls an den meisten Stellen. Nun, da der Fluss aufgehört hat zu leuchten, gehört die Stadt bald ganz uns. Du hast recht und doch nicht. Akink und Budapest– keine der beiden Städte löst sich auf, sondern sie werden eins. Endlich kommt zusammen, was zusammengehört. Wir werden zu Hause sein, meine Liebe.«
Das klang ganz anders als das, was Mattim ihr erzählt hatte.
» Ist das nicht gefährlich?« Blutende Überreste unter den Bäumen…
» Für wen?«, fragte er zurück. » Für uns Schatten? Im Gegenteil, für uns wird alles immer besser.«
» Das stimmt«, sagte sie leise. » Meine Verletzungen sind geheilt. Ist das nicht unglaublich? Vielleicht wirst auch du eines Tages wieder so aussehen wie früher!« Das war eine neue Hoffnung, die immer stärker wurde. » Aber die Menschen… Wie es mit ihnen weitergeht, macht mir Sorgen.«
» Bald wird es keine Menschen mehr in Budapest
Weitere Kostenlose Bücher