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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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engen Straßen, vorbei an Schatten, die sich rasch in Hauseingänge drängten und durch Abzweigungen flohen. Die Schreie vor ihnen rissen nicht ab, und Mattim zweifelte nicht daran, dass die Pferde jeden, der sich ihnen in den Weg stellte, gnadenlos in den Staub traten. Sie hetzten immer weiter, in atemberaubender Geschwindigkeit. Die Mähne peitschte ihm ins Gesicht, seine Hände schmerzten, während er sich festkrallte, die Knie fest gegen den Pferdeleib gepresst. Er spürte weder Schmerz noch Erschöpfung, nur eine überwältigende, berauschende Euphorie, als wäre er dafür geboren, mit einer wilden Herde wahnsinniger Schattenpferde durch Akink zu preschen.
    Ein Pfeilregen ging auf sie nieder, und eines der Geschosse traf den Rappen, auf dem er saß. Der Hengst brüllte vor Zorn und wurde nur noch schneller. Von irgendwoher übertönte Kununs Schrei den Lärm: » Zu mir! Verdammt, Weiras, zu mir!«
    Der Hengst zögerte kurz, als er die Stimme erkannte. Der neue König saß auf einem gewöhnlichen Pferd und stieß ihm die Sporen in die Seiten, um es der rasenden Herde entgegenzutreiben. Mattim erhaschte einen kurzen Blick auf Kununs fassungsloses Gesicht. Da waren sie schon vorüber, und die Pferde stürmten in eine Mauer aus Speeren und Soldaten. Mit einem eleganten Sprung setzte der Rappe namens Weiras über das Hindernis, und die übrigen folgten ihm, während sie mit den Hufen Knochen und Fleisch zermalmten.
    Dann endlich tauchte die Brücke vor ihnen auf. Die Pferde galoppierten über den Fluss, dem Wald entgegen. Mitten unter ihnen war Mattim auf dem Rappen; manche folgten ihnen, manche trieb er vor sich her. Sie waren wie eine Lawine, nicht aufzuhalten.
    Endlich erreichten sie die andere Seite. Der Wald öffnete sich vor ihnen, schwarz und unheimlich. Wolfsgeheul schallte ihnen entgegen. Die Pferde wurden langsamer. Mattim versuchte, seine verkrampften Finger von der Mähne zu lösen, halb sprang er ab, halb fiel er hin. Weiras stieg und schrie zornig, als ihn erneut ein Pfeil traf. Aus dem Schilfdickicht am Ufer stürmte ein ganzer Trupp Soldaten. Die Pferde, zwischen Fluss und Wald eingekeilt, wandten sich wie ein einziges Wesen um und galoppierten am Ufer entlang, diesmal südwärts.
    Mattim konnte nur noch die Hände in die Höhe strecken und sich ergeben, als sich zwanzig Pfeilspitzen auf ihn richteten.
    Kunun erwartete ihn auf der Brücke. Er war so wütend, wie Mattim es schon lange nicht mehr erlebt hatte. Zorn flammte in seinen Augen, überschattete alles an ihm mit Nacht, sodass selbst das Pferd zwischen seinen Schenkeln vor Kälte zitterte.
    Die Wachen stießen Mattim vor den König hin, zwangen ihn auf die Knie. Er nahm kaum wahr, dass es Solta war, der ihn am Arm gepackt hielt, der ihn niederzwang, der ihm zuraunte: » Gehorche, oder es ist vorbei!«
    » Es ist ein alter Brauch«, sagte Kunun. Er konnte die Worte kaum hervorpressen, sie schienen sich zwischen seinen Zähnen zu verkeilen. » Pferdediebe werden gehängt. Gib mir einen Grund, einen einzigen, warum ich dich am Leben lassen sollte.«
    Mattim verengte die Augen, starrte ihn herausfordernd an und schwieg.
    Kunun saß ab und übergab die Zügel einem seiner Wächter. Er trat auf Mattim zu.
    » Beim Licht, antworte ihm!«, zischte Solta.
    Ich brauche das Licht. Und eine Armee, dachte Mattim. Aber vielleicht brauche ich auch bloß ein wenig Glück.
    » Lass mich los, Solta, sobald ich es sage«, flüsterte er.
    Kunun machte einen Schritt auf ihn zu. Dann noch einen. Er hob die Hand, um seinen Bruder zu schlagen.
    » Jetzt!«
    Solta gab ihn frei. Mattim packte Kunun an der Hand, drehte sich blitzschnell und schleuderte seinen Bruder, der nicht mit einem Angriff gerechnet hatte, über seinen Rücken. Ein einziger Stoß– und der König der Schatten fiel über die Brüstung und stürzte von der Brücke ins Wasser.
    Kunun schrie auf, als er durch die Luft flog, die Wachen brüllten erschrocken auf, und noch jemand schrie. Es war Hanna, die über die Brücke lief und die anderen fast erreicht hatte, Hanna mit wehendem Haar, das Gesicht verzerrt vor Angst und Entsetzen.
    » Nein! Kunun, oh nein!«
    Ihr verzweifelter Aufschrei tat Mattim in der Seele weh. » Du hast ihn umgebracht! Ich hasse dich!«, schrie sie und stieß ihn beiseite. Sie stürzte an die Brüstung, lehnte sich weit hinüber und starrte ins Wasser. » Kunun!«
    Es war alles so schnell gegangen, dass der Schock ihnen allen noch in den Gliedern saß. Die Wachen beugten sich

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