Der Traum des Schattens
ebenfalls über das steinerne Geländer, starr vor Entsetzen und ungläubig über das, was geschehen war.
» Kunun! Das darf nicht sein. Kunun!«
Benommen taumelte Mattim ein paar Schritte zurück.
Es war vorbei, der Feind war besiegt, ohne Armee, ohne das Licht. Das Glück eines einzigen gnädigen Augenblicks hatte gereicht. Sein Bruder war tot.
» Er lebt!«, keuchte Hanna, völlig außer sich. » Er schwimmt, dort drüben! Oh Kunun!« Sie drängte sich durch die Umstehenden und rannte auf das andere Ende der Brücke zu.
Bevor sich die Wächter an ihre Pflicht erinnern konnten, packte Solta Mattim bei den Schultern und zerrte ihn zur nächstbesten Markierung auf der Brücke. Sie traten durch die Pforte, obwohl zahllose Hände nach ihnen griffen, und noch während ihnen eine ganze Schar hinüber nach Budapest folgte, flohen sie in die Nacht.
Kunun hielt Hanna in den Armen, während sie den Kopf an seiner Brust barg. Seine Kleider waren nass, die Haare tropften, doch sie zuckte nicht davor zurück. Es war, als hätte ätzende Säure sich in Pfefferminztee verwandelt. Die Tropfen des Donuawassers, die ihm früher unvorstellbare Schmerzen bereitet hätten, waren nun nichts weiter als Wasser: belanglos, harmlos.
» Du lebst«, weinte sie. » Du bist bei mir.«
Er war aus dem Wasser gestiegen, ungläubig lachend. » Mir ist nichts passiert. Der Fluss hat seine Kraft verloren. Es muss vor kurzem erst passiert sein. Das bisschen Licht sind nur noch die Nachwehen.«
Es war ein Wunder. Staunen milderte die furchtbaren Narben, Freude glänzte in seinen Augen. Sie fiel in seine Umarmung, in seine Zärtlichkeit und weinte und lachte, beides gleichzeitig.
» Ich dachte, du wärst tot. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren.«
Er hielt sie fest. Sie saßen am Ufer und klammerten sich aneinander, als wollten sie sich nie wieder loslassen.
» Wusstest du, dass der Fluss seine Kraft verloren hat?« » Nein«, sagte er leise. » Ich wusste es nicht.«
» Und mir war nicht klar, wie sehr ich dich liebe«, flüsterte sie.
Er küsste sie auf die Stirn, aufs Haar, auf die Augen, auf den Mund. Seine Lippen und seine Haut waren kühl vom Flusswasser. Er schmeckte nach Wasser und Gras, vermischt mit den letzten Aromen von Licht und Sommer, wie ein Duft, der sich bereits auflöste. Das erste Mal, seit Hanna die beiden Brüder kannte, schmeckte Kunun genau wie Mattim, als hätte der Fluss ihn für einen Augenblick in einen anderen Mann verwandelt.
» Mattim ist ein Mörder«, flüsterte sie. » Er war bereit, dich umzubringen. Seinen eigenen Bruder! Wie konnte er das nur tun, nachdem du ihm so oft verziehen hast? Was ist er nur für ein Mensch?«
Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm das erste Mal im Tanzsaal begegnet war, wie er ihr von Anfang an unheimlich vorgekommen war, düster und gefährlich. Sie hätte auf ihren Instinkt hören sollen. Er hatte so freundlich getan, so harmlos. Hatte versucht, sie mit seinem Charme einzuwickeln, sie einzulullen mit seinem Gerede vom Licht.
» Wir befinden uns im Krieg«, sagte Kunun leise, seine zerfurchte Wange dicht an ihrer, er hatte die Augen geschlossen. Sie konnte fühlen, wie er atmete, was er sonst nie tat. Er löste sich von ihr, um zu husten und das Flusswasser auszuspucken. » Wusstest du das denn nicht?«
» Er wollte dich umbringen«, wiederholte sie. Immer noch konnte sie es nicht fassen. Ausgerechnet Mattim mit dem goldenen Haar. Mattim, der sich auf der Margareteninsel vor sie ins Gras gelegt hatte, mitten in die Sonne, und Seifenblasen in die Luft steigen ließ. Schönheit, Anmut, Kraft– dahinter hatte er seine wahren Absichten verborgen, den Wahnsinn, vor dem Kunun sie von Anfang an gewarnt hatte. » Er hätte es beinahe geschafft!«
Kunun atmete in ihr Haar. » Ich habe den Tod auf mich zukommen gesehen«, flüsterte er. » Das Wasser schlug über mir zusammen, und das Letzte, woran ich gedacht habe, das warst du. Ich war bereit zu sterben, denn ich habe dich in den Armen gehalten. Gleichzeitig wollte ich nicht sterben und dich verlassen… Klingt das nicht unsinnig? Bereit zum Tod zu sein und dennoch um keinen Preis sterben zu wollen… Nun sitze ich hier und kann dich berühren, und du sagst mir, dass du mich liebst. Wie kann ein einziger Tag so schrecklich und zugleich so schön sein wie dieser?« Er bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen. » Du bist wunderbar«, flüsterte er.
Wieder lag dieses fremde Staunen in seinem Blick. Dann küsste er sie,
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