Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
Vom Netzwerk:
der ganze Wald atmen, keuchen, fliehen, sich verstecken– oder sich auf sie stürzen?
    » Werde zu einem Tier der Nacht.« Seine Stimme wurde leiser, sie war ein Teil des Waldes, des Nebels, der finsteren Schatten, die alle Geheimnisse verbargen. » Wittere die Beute. Vergiss die Gefahr, die Angst, jedes Gefühl. Dort ist das Blut. Darin ist die Macht, dem Licht entgegenzutreten. Darin ist die Macht über alles Leben. Darin ist auch die Gewalt des Todes, denn der Tod siegt immer. Geh voraus. Du weißt instinktiv, wie man eine Beute zur Strecke bringt, mein süßer Vampir.«
    Es war einfach gewesen, Kunun zu folgen– vorauszugehen erforderte viel mehr. Immer wieder blieb sie stehen, horchte. Sie schnupperte, aber der feuchte Modergeruch des Waldes war das Einzige, was sie wahrnahm. Da, wieder ein Knacken. Jemand brach durchs Unterholz, eindeutig. Etwas Großes, Schweres.
    Außerdem war da der Geruch– süß, metallisch: Blut. Salziger Schweiß hing an den Blättern, doch der Duft des Blutes überdeckte ihn, überdeckte alles. Es roch nach Lebenskraft.
    » Da ist ein Mensch aus unserer Welt«, flüsterte Hanna, » ein Mensch voller Licht, Wärme und Leben.«
    » Beute«, bestätigte Kunun.
    Hinter ihnen verteilten sich die Schatten, schwärmten aus. Hanna fühlte die Aufregung wild und prickelnd durch ihren Körper strömen. Leben, das war Leben– die Jagd.
    Die Frau verströmte einen strengen Geruch aus Angst und Schweiß, jedoch wurde diese Wolke von dem Duft ihres Blutes überlagert.
    Vorfreude glänzte in Kununs Augen. » Lassen wir ihr ruhig einen kleinen Vorsprung. Sie ist jetzt schon außer Atem, da wäre es schade, wenn wir sie allzu schnell erwischen.«
    Hanna leckte sich die Lippen. Sie fühlte bereits die Verlockung der Lebensenergie, die in den Adern des Opfers kreiste.
    » Vielleicht treffen wir heute sogar meinen Bruder«, sagte Kunun heiter.
    » Was?« Sofort war Hannas Vorfreude dahin. » Mattim ist hier?«
    » Er dient mir. Selbst wenn er glaubt, dass er gegen mich arbeitet, dient er mir noch. Deshalb macht es ja so einen Spaß. Ich wollte dich nur vorwarnen.«
    Wut strömte glühend durch ihre tauben Adern, doch sie blieb äußerlich wie innerlich ruhig.
    Die Jagd. Lass alles raus – in die Schritte, in die Art, wie du dich bewegst, wie du dein Opfer überrumpelst. So macht er es auch. Sie stutzte, überrascht davon, dass sie das Geheimnis von Kununs manchmal erstaunlicher Gelassenheit herausgefunden hatte. Die Jagd. Gib alles hinein, all deine Gefühle, bis nur noch das eine zählt: die Beute.
    Hanna duckte sich unter einem herabhängenden Ast hindurch, Blätter peitschten ihr ins Gesicht. Obwohl sie sich unterhielten, mussten sie ihr Tempo nicht drosseln. Schwungvoll sprang sie über einen Baumstamm und rannte leichtfüßig weiter, in sich die Kraft und Anmut einer Wölfin.
    » Gleich haben wir sie. Mein angebliches Kind.«
    » Was?« Sie hatte Kunun nie wieder nach seiner Lichtprinzessin gefragt, nach jener Fremden, die er früher gekannt und geliebt hatte. Das Mädchen, das ihn so sehr verletzt hatte, dass er von ihr fortgetaumelt war, noch tiefer in die Dunkelheit. » Im Ernst? Wir jagen dein Kin d ?«
    Vor Überraschung blieb sie stehen, aber Kunun grinste. Sie hatte ihn selten so gut gelaunt erlebt.
    » Absurd, nicht wahr? Meine Tochter oder meine Enkelin wäre bestimmt nicht… so. Da erwarte ich durchaus etwas mehr Eleganz.«
    » Aber… du lässt ihn wirklich dein Kind suchen?«
    » Natürlich. Ich habe sogar dafür gesorgt, dass Mirita eine ganze Menge Namen zu hören bekommt, damit Mattim eine große Auswahl hat. Er sucht meine Verflossenen auf– jedenfalls hält er sie dafür.« Sein Tonfall verriet, wie sehr er sich amüsierte. » Der arme, kleine Mattim ist immer noch der Hoffnung erlegen, ich könnte ein Kind gezeugt haben, irgendwann in den letzten hundert Jahren, und dieses Kind könnte das Licht nach Magyria zurückbringen. Eine geniale Idee im Grunde, das muss ich ihm lassen. Stell dir bloß vor, das Licht meiner königlichen Familie, verbunden mit der Lebensenergie der Menschen aus deiner Welt! Ein solcher Mischling müsste heller leuchten als jeder andere Lichtprinz, den es in den letzten Jahrtausenden gegeben hat. Eine Supernova sozusagen. Er würde die Dunkelheit dahinschmelzen mit der Macht eines hundertfachen Frühlings. Ich kann nur dankbar sein, dass Mattim keinen eigenen Sprössling hat, noch dazu mit einer Menschenfrau– falls er jemals eine menschliche

Weitere Kostenlose Bücher