Der Traum des Schattens
hatte. Er ist der Feind.
Kunun legte ihr die Hand auf den Arm, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er lächelte nicht mehr. » Du hast mich einmal überrumpelt, Mattim, das wird dir kein zweites Mal gelingen. Fasst ihn!«
Von überall her sprangen Wächter aus der Dunkelheit des Waldes. Während Mattim sich zwischen ihnen hindurchkämpfte, zeigte sich das ganze Ausmaß seiner Wut. Er kam Hanna vor wie ein wildes, in die Enge getriebenes Tier, rasend wie ein Schattenwolf in der falschen Welt.
» Wie bedauerlich«, meinte Kunun, als seine Getreuen kopfschüttelnd und mit leeren Händen zurückkamen. » Nun denn, machen wir weiter. Du bist an der Reihe, Hanna.«
Er nickte ihr aufmunternd zu. Wollte er wissen, ob sie ihm ähnlich war, ob sie dasselbe Vergnügen hierbei empfand wie er? Tief in ihr regte sich etwas, das sich beinahe nach einem schlechten Gewissen anfühlte, nach Scham.
Verborgen in ihrem gelähmten Herzen flüsterte eine Stimme: Weißt du nicht mehr? Das Licht ist für die Unschuldigen da.
Sie befahl der Stimme zu schweigen. Ich tue unrecht? Von wegen! Ich gehöre zu Kunun, ich beweise es, seht hin! Na, bin ich die Leopardin, die sich auf alles stürzt, was verlockend genug ist? Das hier ist für dich, Mattim, du Mistkerl.
Sie packte Theresa am Handgelenk. Es war ein Fehler gewesen, die Frau anzufassen. Nicht, weil sie schrie und sich wehrte, sondern weil Hanna den Puls spürte, das pochende, lebendige Blut in den Adern des Opfers.
Ja, beantwortete sie sich selbst die Frage. Ich bin es, ich bin wie Kunun. Ich will mir nehmen, worauf ich Lust habe. Ich will das Raubtier in diesem Wald sein, statt Angst zu haben.
» Rette mich!«, heulte Theresa.
» Du wirst danach nichts mehr wissen«, sagte Hanna, bevor sie zubiss. » Ist das nicht Rettung genug?«
Mattim kämpfte sich den Weg frei. Ein harter Schlag in den Magen des nächsten Wächters, und dieser krümmte sich vor Schmerz zusammen. Keiner der neuen Schatten hatte seinen Körper so in der Gewalt wie Kunun, an dem alle Angriffe abprallen würden. Die Wut, die Mattim vorhin zurückgehalten hatte, als er erkannte, dass er Theresa nicht helfen konnte, brach sich jetzt ungehindert Bahn. Er stieß den Angreifer gegen einen Baumstamm, schmetterte seinen Kopf gegen die Rinde und trat ihm die Beine weg. Während der Mann sich stöhnend am Boden krümmte, unterdrückte Mattim den Impuls nachzutreten. Seine Hände zitterten, aber es reichte. Es war nicht der Schatten zu seinen Füßen, den er am liebsten erwürgt hätte.
Abrupt wandte er sich um und machte sich auf den Weg zur nächsten Pforte, wo Mirita auf ihn wartete.
Allerdings hatte er nicht die Absicht, mit ihr nach Budapest zu gehen. Er packte sie an der Hand und zog sie mit sich.
» Was ist passiert?«, fragte sie unruhig. » Hast du Theresa nicht gefunden?«
» Doch«, beschied er ihr knapp.
Sie gingen durch den Wald, sprangen über Baumstämme, duckten sich unter herabhängenden Ästen und Schlingpflanzen hindurch. Schließlich waren sie weit genug entfernt– und allein.
Mattim witterte kurz. Seine Sinne verrieten ihm, dass keine Wölfe in der Nähe waren. Sie hätten ihn vor den Schatten gewarnt, denn sie waren immer da, wenn ihm Gefahr drohte.
» Sagst du mir endlich, was los ist?«
Er stieß Mirita hart von sich, sodass sie rücklings stürzte. Verwirrt blickte sie ihn an.
» Verräterin! Du weißt genau, was passiert ist!«
» Ich verstehe dich nicht.«
Drohend ragte er über ihr auf. Er bemerkte die Angst in ihren Augen, aber es war ihm egal. Obwohl er nur ein Mensch war und sie ein Schatten, zuckte sie zurück vor seiner Wut.
» Sag es mir, Mattim!«, schrie sie.
» Du hast Theresa an Kunun verraten. Der ganze Wald ist voller Schatten. Sie haben auf uns gewartet!«
» Ich habe sie nicht verraten!«, rief Mirita. Rückwärts kroch sie von ihm fort. » Glaub mir, Mattim!«
» Warum sollte ich das tun? Du verrätst mich ständig. Seit ich dich kenne, hast du nie etwas anderes getan.«
» Das war nicht ich!«, beteuerte sie. » Ich kann ja verstehen, wenn du mir nicht verzeihst, dass ich Hanna direkt in Kununs Fänge geschickt habe. Aber nun endlich besteht Hoffnung. Seit ich an deiner Seite bin, seit wir nach den Kindern des Lichts suchen, kann ich wieder an das Licht glauben. Ich weiß wieder, wer ich bin!«
Er hob die zur Faust geballte Hand, und sie schluchzte auf.
» Bitte, Mattim!«
Wie in Zeitlupe ließ er seine Hand sinken. » Vielleicht«, sagte er. » Vielleicht
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