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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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sie aus einem Teich voller Licht schöpfen und das leuchtende Wasser in einen ausgetrockneten Brunnen füllen. Der Wasserstand ihres eigenen Teiches sank dabei nicht. Es war genug Licht da.
    Es war, als würde sie die Tür ihres Zimmers öffnen und das Licht ins Nebenzimmer fluten lassen. Sie verlor dabei nichts, während es drüben hell wurde.
    Es war, als würde sich aus einer kaum sichtbaren, leuchtenden Engelsgestalt eine zweite Gestalt ablösen und davonschweben.
    All das war es und zugleich nichts davon. Bilder tanzten durch ihren Geist, sie konnte sie nicht festhalten, sie entglitten ihren Gedanken und verblassten. Noch während sie durchscheinend wurden, ertastete Mónika etwas, das allmählich deutlicher wurde, fester, immer wirklicher.
    Sie berührte kein Fell, keinen schmalen Wolfskopf, sondern ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht.
    Noch wagte sie nicht, die Augen zu öffnen. Die Angst war zu groß, dass Träume wahr werden könnten. Das hier war ein Traum, es musste ein Traum sein, denn wie hätte es wirklich sein können, dass sie den Mann zurückbekam, den sie besinnungslos geliebt und dann verloren hatte, verflucht und beschimpft und der alle ihre Flüche nie verdient hatte? Ein roter Wolf, der vor ihrer Haustür herumschlich.
    » Mónika«, flüsterte er.
    Sie fühlte seine Hände auf ihren Wangen, mit den Fingerspitzen wischte er ihre Tränen fort. Sie spürte seine Lippen auf ihren, ganz sanft nur, ein Hauch eines Kusses.
    » Mónika.«
    So sehr fürchtete sie sich davor, ihn anzusehen, dass ihr schwindlig war. Doch war es nicht dunkel? Sie musste ihn nur berühren, sich ganz auf ihre Sinne verlassen. Hier, in der finstersten Nacht würde sie ihn finden.
    Sie öffnete die Augen und sah.
    Wider Erwarten war es nicht dunkel. Über die Wände spielte ein schwacher Lichtschimmer, und er kniete vor ihr, ein Mann mit rotem Haar und einem Lächeln, das viel zu jung für ihn war, das Grinsen eines Schuljungen, dem gerade ein Streich geglückt war.
    » Du Mistkerl, wo bist du die letzten zehn Jahre gewesen?«
    Einen Moment lang erwog sie, ihn zu schlagen, weil er sie im Stich gelassen hatte. Dass er ein Wolf gewesen war, musste ein Traum gewesen sein, ein schlimmer Albtraum, denn er war so offenkundig menschlich, dass nicht der leiseste Zweifel bestand. Am Ende schlug sie ihn nicht.
    » Ich glaube, ich werde ohnmächtig«, wisperte sie und sank in seine Arme.

35
    WALD VOR AKINK, MAGYRIA
    Mirita weinte lautlos. » Wie lang ist die Ewigkeit?«, flüsterte sie. » Wie wird sie gemessen? In Jahrtausenden? Werde ich hier liegen, tausend Jahre und noch einmal tausend, vergessen in der Dunkelheit wie ein Stück Abfall? Wie kann es nur etwas so Schreckliches geben? Ist das die Strafe dafür, dass ich Mattim geliebt habe? Dass ich das Licht verraten habe? Es tut mir leid. Er liebt mich nicht. Er hätte mich nie geliebt. Alles, was er mir geben wollte, war Freundschaft, und das war mir nicht genug…«
    Sie schämte sich für ihr Selbstmitleid. Schämte sich dafür, wie sie aussah, so schrecklich, dass Réka heulend davongestürzt war. So viel zu der Hoffnung, dass irgendjemand sie aufheben und mitnehmen könnte. Wohin auch? In ein noch zu gründendes Hospital für verletzte Schatten, wo die entsetzlichsten Gestalten dahinvegetierten?
    Sie schämte sich, weil sie aufgehört hatte, tapfer zu sein und zu hoffen und zu kämpfen.
    Wie maß man die Ewigkeit? Mit dem Takt der Gedanken? Mit dem stechenden Puls von Schuldgefühlen und Reue? Mit dem bitteren Geschmack verratener Liebe auf der Zunge, zwischen den ausgeschlagenen Zähnen?
    » Bela«, flüsterte sie. » Bist du noch da?«
    Er winselte leise.
    Das Wasser wärmte ihren zerschmetterten Körper. Komisch, sie hatte es die ganze Zeit gar nicht fühlen können, dieses Wasser, das seine Kraft verloren hatte. Doch jetzt kribbelte es auf ihrer Haut, brannte in ihren Wunden wie Salzwasser. Etwas regte sich, etwas erwachte. Die Wellen, die gegen das Schilf schlugen, flüsterten. Die Halme knisterten, als wären sie elektrisch aufgeladen. Funken tanzten über Belas schwarzen Pelz. Er sprang auf, das Fell gesträubt.
    » Ach, Bela«, murmelte sie. » Es tut nicht weh, es ist…«
    Sie konnte nicht weitersprechen. Das Wasser glühte, brannte, löste den Schmerz auf, die Verzweiflung, ließ alles davontreiben. Licht glomm auf, nicht blendend oder strahlend, sondern tief und sanft, wie ein dunkler, langgezogener Ton, ein Gong, der alles vibrieren ließ. Sie fühlte, wie sie

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