Der Traum des Schattens
los.
Kunun griff daneben, als Attila an ihm vorbeihuschte und Mattim erreichte. » Er darf dich nicht umbringen!«
» Weiter, schnell!« Mattim hielt die Hand des Jungen fest. Gemeinsam rannten sie weiter, während sämtliche Schatten hinter ihnen her stürmten.
Kunun brüllte seine Anweisungen. » Schneidet ihnen den Weg ab! Beeilt euch!«
Hanna prallte gegen ihn, als sie hakenschlagend den Schatten auswich. Er fing sie auf, und sie sprudelte mit der ersten Rechtfertigung heraus, die ihr einfiel.
» Ich hätte ihn fast gehabt! Hast du das gesehen? Ich war ganz kurz davor!«
Kunun zweifelte nicht an ihrem guten Willen. Nicht daran, dass sie eine Pforte geschaffen hatte, um Attila zu töten, statt ihn zu retten. » Beenden wir es«, sagte er. » Du musst Mattim ablenken, benutze den Dolch. Dann schnappe ich mir das Kind.«
Vor ihnen lief Mattim den Weg zum Flussufer hinunter, den Jungen an der Hand. Sie rannten um ihr Leben, aber sie hatten keine Chance, keiner von ihnen. Der Weg zur neuen Pforte war ihnen durch die unzähligen Schatten versperrt, die erneut gegeneinander zu kämpfen begannen.
Da war schon das Ufer. Mattim zögerte. Sollte er sich mit dem Jungen dem Wasser anvertrauen? Kunun konnte exzellent schwimmen– was hätte ihn daran gehindert, seinen menschlichen Bruder in die Tiefe zu ziehen, während er selbst beliebig lange unter Wasser bleiben konnte, da er nicht zu atmen brauchte? Es wäre besser gewesen, durchs Schwert zu sterben, als wie ein Welpe ertränkt zu werden. Kunun würde sie beide töten, während sie mit der Strömung kämpften.
» Weiter!« Er hielt Attilas Hand fest, während er am Ufer entlangspurtete. Vor ihnen erschienen die ersten Schatten, um ihnen den Weg abzuschneiden.
» Mein Lieber«, flüsterte Mónika, » mein Geliebter. Hier bist du. Hier bin ich. Es ist verrückt. Endlich finde ich dich, und du bist weiter von mir entfernt, als es ein Mensch sein könnte. Es ist, als lebtest du auf einem anderen Planeten, in einer anderen Galaxis. Wie kannst du mir das antun? Wie kannst du nur ein Wolf sein?«
Er leckte ihre Hand.
Und die Frau gab dem Wolf einen Teil ihrer Seele … Mattims Geschichten kamen ihr wieder in den Sinn. Sie waren ihr so märchenhaft vorgekommen wie alles andere. Wie in einem Traum saß sie in diesem dunklen Zimmer der Bilder, einen Wolf im Arm, der einmal ein Mann gewesen war, ein rothaariger, junger Mann mit einem umwerfenden Lächeln. Ein Mann, der sie alles hatte vergessen lassen, sogar die Tatsache, dass sie bereits verheiratet war und ein Kind hatte.
Mónika hatte nie zu den Frauen gehört, die Seitensprünge für verzeihlich hielten. Sie hatte nicht vorgehabt, das Versprechen zu brechen, das sie Ferenc gegeben hatte. Auch wenn es mit ihm alles andere als leicht war, hatte sie um ihre Ehe kämpfen wollen, für die Zukunft ihrer Tochter. Sie hatte gut sein wollen und treu… bis Willi kam. Bis die Versuchung ein Gesicht erhielt und sie ihr ohne Gegenwehr erlag. Bis sie sich eingestehen musste, dass sie so schrecklich verliebt war, dass es kein Zurück gab, keine Rücksicht, auf nichts und niemanden. Für einen Kerl, der die meiste Zeit Unsinn redete, sie zum Lachen brachte, der die Arme um sie legte, mit ihr tanzte und einfach nur wunderbar war. Sie begriff nicht, wie sie ohne ihn hatte leben können. Er war wie der verlorene Teil ihrer Seele, von dem sie nicht gewusst hatte, dass er existierte.
Attila hatte sein Lächeln geerbt, dieses unwiderstehliche Strahlen. Attila, der die Freude in ihr Haus gebracht hatte und zugleich einen unentrinnbaren Schmerz, weil alles an ihm an den Mann erinnerte, der ihr sorgsam gehütetes Leben untergraben hatte…
Was konnte noch merkwürdiger, wunderbarer und schrecklicher sein, als diesen Mann wiederzufinden, gebannt in die Gestalt eines Tiers?
Sie nahm den Kopf des Wolfs zwischen ihre Hände und beugte sich vor, bis ihre Stirn die seine berührte.
» Du bist ein Teil von mir«, sagte sie. » Das warst du schon immer, sogar noch bevor wir einander begegnet sind. Wir sind füreinander geboren worden. Du bist meine verlorene Hälfte, nur mit dir bin ich ganz. Nimm, was immer du von mir brauchst. Ich habe es aufbewahrt, für dich, für diesen Augenblick. Hier hast du es.«
Sie schloss die Augen. Sie hielt ihn in ihren Armen. Sie stellte sich vor, dass sie ihre Seele auseinanderriss und ihm schickte. Es tat nicht weh, es war kein gewaltsames Reißen, wie wenn Stoff reißt oder Papier, es war vielmehr, als würde
Weitere Kostenlose Bücher