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Der Traum des Schattens

Der Traum des Schattens

Titel: Der Traum des Schattens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Klassen
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davontrieb. Wie sich ihr zerstörter Körper in den Fluss mischte.
    Mirita wehrte sich nicht. Ergeben ließ sie es mit sich geschehen, und ihr letzter Gedanke war: Wie misst man die Ewigkeit? Gar nicht. Alles fließt davon …
    Dort, wo sie gelegen hatte, blieb nichts zurück. Kein Blut, keine Asche, nichts.
    Wenn Réka vorher nicht genau gesehen hätte, dass dort jemand gelegen hatte, sie hätte es nicht geglaubt. Nur der Wolf stand noch da, verwirrt und verzweifelt.
    » Das kann nicht sein«, flüsterte Réka, während sie sich rückwärts entfernte und sorgfältig darauf achtete, auf keine nasse Stelle zu treten. » Der Fluss ist wieder erwacht. Wie ist das nur möglich?« Die Wellen folgten ihr, als sie eilig fortstolperte, um nicht mit dem Wasser in Berührung zu kommen.
    Die Schatten kamen Mattim entgegen, hinter ihm wartete Kunun auf die passende Gelegenheit, sich auf ihn zu stürzen. Vor ihnen war der Fluss.
    Es gab keinen Ausweg.
    » Stell dich hinter mich«, sagte Mattim zu dem Jungen. Trotzig blickte er seinem Bruder ins Gesicht, in die entstellte Fratze. » Nur über meine Leiche, das haben wir so abgemacht. Ruf deine Schatten zurück, wir sind hier noch nicht fertig.«
    Eine Handbewegung von Kunun, und die Krieger blieben stehen. Hanna dagegen machte einen Schritt nach vorne.
    » Komm zu mir, Attila«, sagte sie. Vielleicht gelang es ihr, das Kind in Sicherheit zu bringen, während die Brüder kämpften. Sie würde Attila an die Hand nehmen und mit ihm davonrennen, auch wenn sie dann Mattim seinem Schicksal überlassen musste.
    » Mach dir nicht die Mühe«, meinte Kunun. » Ich habe sie gleich, alle beide.«
    Mattim fuhr mit der Hand in seine Tasche, er holte ein Feuerzeug heraus.
    Kunun lachte laut auf. » Was soll das werden? Willst du mich verbrennen?«
    Ein Schritt, ein zweiter.
    Réka rannte über die Wiese. » Wartet!« Sie erreichte das Ufer, packte Hanna am Arm.
    » Sie werden gleich kämpfen«, flüsterte Hanna.
    » Ja.« Mit einem Blick überschaute Réka die Situation. » Sag Mattim, er soll in den Fluss gehen. Mit Attila.«
    Hanna überlief es kalt. » Sie werden ertrinken.« Im Fluss hatte Mattim keine Chance gegen einen Schatten, der so lange unter Wasser bleiben konnte, wie er wollte.
    » Schau mich an«, sagte Réka leise. » Glaubst du, ich weiß nicht, um wen es geht? Attila ist mein Bruder.« Ihr kleines Gesicht war zart und mädchenhaft, aber in ihren Augen lag ein erschreckender Ernst. » Vertrau mir.«
    » Ich soll dir vertrauen? Du willst Kunun für dich gewinnen, glaubst du, das wüsste ich nicht? Das ist doch nur ein neuer Trick.«
    Réka seufzte. » Vor kurzem hätte ich dir seinetwegen am liebsten die Augen ausgekratzt, aber vergiss nicht, ich kann deine Gefühle spüren, Hanna, ich weiß, dass du Mattim liebst, dass du sie beide retten willst. Hör auf mich, nur dieses eine Mal. Kann unser Band nicht auch in die andere Richtung funktionieren? Dann würdest du wissen, dass ich nicht lüge.«
    Hanna versuchte zu fühlen, was Réka fühlte. Manchmal gelang es ihr, doch heute zweifelte sie an dem, was sie von dem Mädchen empfing. Ihr blieb nur, sich auf ihr Gespür für andere Menschen zu verlassen, diese ungeliebte Gabe, die sie schon als Kind gehabt und die ihr häufig genug das Leben schwer gemacht hatte. Sie hatte versucht, die Instinkte, die ihr viel zu viel über andere Leute verraten hatten, zu unterdrücken, ohne sie auszukommen, nie weiter zu sehen als andere. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, dieses empathische Talent anzunehmen– wenn sie es denn nicht verloren hatte, als sie zum Schatten geworden war.
    Sie horchte auf ihre innere Stimme, suchte nach einer Antwort. Auf Réka war kein Verlass, das wusste sie, für Kunun würde das Mädchen über Leichen gehen. Trotzdem war da etwas in Rékas Gesicht, das es ihr unmöglich machte, darüber hinwegzusehen.
    Sie erinnerte sich daran, wie Réka sich schon einmal für das Leben entschieden hatte und nicht für Kunun. Und sie dachte daran, wie sie vor kurzem Mattim vor dieselbe qualvolle Entscheidung gestellt hatte– zu vertrauen oder alles aufzugeben.
    » Gut«, sagte sie leise. » Ich tu’s.« Dann schrie sie laut: » Ins Wasser! Mattim, geh ins Wasser! Bei meiner Liebe zu dir, tu es!«
    Er schaute sie an. Seine Augen waren grau wie die Donau, grau wie die Steppe in der Dämmerung, grau wie das Fell der Schattenpferde.
    Er hatte seinen Krieg für sie aufgegeben, und nun gab er sich und Attila in ihre Hände.

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