Der Traum des Schattens
Sie liefen durch einen Wald, in dem das Licht wohnte. Die Bäume standen weit auseinander, Birken mit hellgrünen Blättern und leuchtender Rinde. Das Gras dazwischen blühte, ein roter Schimmer lag über den Halmen. Der goldene Wolf lief als Letzter in der Reihe. Er wandte sich um, sodass sein Blick ihrem begegnete, und durch den Traum hindurch sah er sie an. Die Szene war so real, dass sie erwachte, ein Blick, der sie streifte wie eine Berührung, wie eine Hand.
» Sieh hin«, sagte eine Stimme. » Das ist er.«
Einen Moment lang war ihr, als würde eine dunkle Gestalt an ihrem Bett stehen, das Gesicht im Schatten. Dann wurde ihr bewusst, dass auch diese Gestalt noch zu ihrem Traum gehörte, dass sie erst jetzt erwachte, erst jetzt die Augen öffnete.
Sie saß aufrecht in ihrem Bett, keuchend wie nach einem anstrengenden Sprint. Doch in ihrer Brust blieb das dumpfe Empfinden von Leere, als läge dort ein Stein, der wuchs und wuchs und irgendwann so schwer sein würde, dass sie sich nicht mehr aufrichten konnte. Ihr war, als würde sie in Flammen stehen, als würde alles in ihr schreien: Das ist er! Das ist der Mann, den ich liebe!
Neben ihr lag Kunun, dunkel und schweigend auf den weißen Laken, und in diesem Moment erkannte sie, dass das, was sie für ihn empfand, nichts mit dieser brennenden, wilden, leidenschaftlichen Liebe zu tun hatte, die sie beim Anblick des goldenen Wolfes erfüllt hatte. Dieses Wissen, dass sie für immer zueinander gehörten, dass sie füreinander sterben würden…
Hanna schüttelte den Kopf, verwundert über sich selbst.
» Das war nur ein Traum«, murmelte sie. Ein Wunschtraum vermutlich, und nicht der erste dieser Art. Wie absurd, als könnte man tatsächlich einen Wolf lieben wie einen Menschen. Als könnte man ihn ansehen und das Gefühl haben, dass man direkt in eine Seele blickte, die offen und bloß war, empfindlich wie eine Blume, die in der prallen Sonne verwelken könnte, und gleichzeitig stark und unzerstörbar wie ein funkelnder Diamant.
Eine Seele, die aussah wie ein Wolf aus Licht.
Hanna schwang die Beine über die Bettkante und trat ans Fenster.
Das schimmernde Band des Flusses war von hier oben kaum auszumachen. Sie starrte nach draußen, bis ihr die Augen tränten. » Man sollte doch meinen, dass einem Schatten die Dunkelheit angenehm ist, aber sie stört mich trotzdem.«
» Kein Schatten ohne Licht«, sagte Kunun hinter ihr. » Willst du nach Budapest zurück? Ich habe dort ein eigenes Haus, wie du weißt. Es hat fünf Stockwerke und jede Menge Wohnungen.«
» Du meinst das am Bahnhof? Du hast dort nie gewohnt. Ich dachte, du magst das Haus gar nicht.«
» Wenn du dort wohnst, werde ich es mögen.« Er küsste sie auf den Nacken. » Es stehen ein paar Wohnungen leer. Du darfst dir eine aussuchen.«
» Jetzt gleich?«
» Warum nicht? Ich kann mir freinehmen, wann immer ich will. Außerdem«, fügte er leiser hinzu, » gibt es in dieser Nacht, in der alle schlafen sollten, nicht viel zu tun. Schatten zu regieren ist leicht. Man ist nicht einmal dafür zuständig, dass alle genug zu essen haben, und es gibt trotzdem keinen Aufstand. Ich muss lediglich für ein wenig Unterhaltung sorgen.«
Er betastete seine Wangen. » Lass uns den Durchgang von dieser Seite aus benutzen. Ich habe keinerlei Ambitionen, in Budapest am helllichten Tag einen Aufruhr zu verursachen.«
Sie war inzwischen an seine Narben gewöhnt; dass er in der Öffentlichkeit auffallen würde, hatte sie daher fast vergessen. Aus diesem Grund wohnte er hier in der Finsternis statt drüben in der Stadt der Menschen, wohin es ihn mit Sicherheit genauso zog wie sie.
» Natürlich«, sagte sie, und vor Mitgefühl verkrampfte sich das leblose Herz in ihrer Brust.
Sie gingen langsam. Hanna war schon einmal durch diese Stadt gelaufen, vor ihrer endgültigen Verdunkelung. Damals war es düster in Akink gewesen, jetzt schien alles Leben ausgelöscht. Dunkle Gestalten huschten durch die Straßen, und es brannten längst nicht so viele Laternen, wie Hanna es sich gewünscht hätte.
» Was ist denn hier passiert?« Sie zeigte auf ein Trümmerfeld. » Sind das noch Überbleibsel von der Schlacht?«
» Nein«, antwortete er. » Die Häuserreihe ist eingestürzt.«
» Warum?«
» Das weiß ich doch nicht«, meinte er schroff, dann besann er sich und erklärte sanfter: » Die Stadt ist alt. Da kann so etwas schon mal vorkommen.«
Der Weg führte steil nach unten, und kurz darauf lag die Brücke vor
Weitere Kostenlose Bücher