Der Traum des Schattens
ihnen. Der Fluss schimmerte wie ein goldenes Band, über ihm hingen weiße Nebelschwaden.
» Es sieht aus, als würde er das Licht… ausdampfen.«
» Demnächst können wir gefahrlos darin baden. Klingt das nicht verlockend?«
Hanna versuchte sich auszumalen, wie die Schatten Picknick am Ufer machten und im Wasser plantschten. Nein, es war nicht vorstellbar. Sie würden schweigend dort stehen, eine endlose Reihe stummer Gestalten, und in die Finsternis hinausblicken, ohne sich zu rühren.
» Schatten haben kaum Spaß, oder?«, fragte sie.
» Man muss sich etwas einfallen lassen, um sich die Zeit zu vertreiben«, sagte Kunun. » Endlos viel Zeit. Unsterblichkeit ist ein Geschenk, das Weisheit verlangt. Und Geduld. Viele Dinge ergeben sich erst nach sorgfältiger Planung. Solange man noch Risiken eingehen kann, ist man vor Langeweile sicher.«
» Welches Risiko gehst du denn ein? Ich meine, im Moment, wenn du nicht gerade auf schaukelnden Brücken kämpfst?«
Er fuhr mit der Hand über die Brüstung. » Am Ziel zu sein ist gefährlich«, meinte er. » Dann muss man sich nämlich neue Ziele setzen.«
» Hast du denn eines?«
» Vielleicht, dich glücklich zu machen?«
Peinlich berührt wandte sie das Gesicht ab, obwohl der Schein des Flusses kaum ausreichte, ihre Verlegenheit zu offenbaren. In dem verschwommenen Licht verwischten sogar Kununs Narben. Was machte ihn bloß so schön, das ihr totes Herz Flügel bekam? Das flammende Wasser? Wenn man nicht allzu genau hinsah, war er so attraktiv wie früher, ein dunkler Prinz von magischer Schönheit.
» Eigentlich merkwürdig, dass wir hier zusammen sind«, meinte sie, nachdem sie eine Weile schweigend gegangen waren. » Als ich dich damals verfolgt habe, um Réka vor dir zu retten, habe ich dich glühend gehasst.«
» Wann hast du deine Meinung geändert?«
» Das Komische ist, ich weiß es nicht. Es muss irgendwie allmählich geschehen sein.«
Er lachte leise. Vielleicht war seine schwarzseidene Stimme das Schönste an ihm, schon immer, auch als er noch hübsch gewesen war, so verlockend und kostbar wie Jade.
» Ich glaube, es war ein Auf und Ab, dass du mich abwechselnd gehasst und dann wieder anziehend gefunden hast. Umso mehr freue ich mich über die derzeitige Phase.«
» Es ist keine Phase!«, rief sie empört.
» Nein?« Er blieb stehen. Sie waren nebeneinanderher geschlendert, ohne sich anzufassen, doch jetzt legte er die Hände an ihre Wangen. » Darf ich das glauben?«, fragte er. » Dass du wirklich bei mir sein willst, dass du es ernst meinst?«
» Ich meine es immer ernst«, sagte sie.
» Überleg es dir. Vielleicht bin ich nicht der, für den du mich hältst. Ich bin kein guter Mensch, Hanna. Ich habe schreckliche Dinge getan. Ich…«
Sie legte den Finger an seine Lippen. » Das gehört zum Menschsein dazu, Kunun. Nur falls du das nicht wusstest.«
» Du bist wunderbar«, flüsterte er. » Es gibt viele Gründe, warum ich mit dir zusammen sein will, aber dieser gefällt mir ganz besonders.« Er küsste sie wie ein Ertrinkender.
Sie standen auf der schwarzen Brücke, vom goldenen Nebel eingehüllt, und Hanna hielt ihn fest, als könnte sie ihn vor allem schützen: vor dem Licht und vor der Nacht und vor den Sorgen, die auf ihm lasteten. Als könnte sie ihn ein zweites Mal befreien, eine Stadt für ihn erobern und über eine Brücke stürmen, ein wildes Schlachtlied auf den Lippen.
Hanna hatte sich eines der möblierten Appartements ausgesucht. Die Entscheidung war ihr nicht schwergefallen, obwohl Kunun mit den Augen rollte.
» Diese? Wirklich?«
» Spricht etwas dagegen?« Die Wohnung lag im fünften Stock, rechts vom Aufzug. Sie war mit schönen weißen Möbeln ausgestattet, nicht zu vergessen den großen Flachbildschirm. » Sie gefällt mir ganz gut. Ich glaube, ich werde mich hier wohlfühlen.«
Kunun seufzte. » Nimm lieber die in der dritten Etage, die ist… mädchenhafter.«
» Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast. Mädchenhafter?«
» Ich hätte nicht gedacht… Ich weiß nicht, warum ich sie dir überhaupt gezeigt habe. Das ist eine Wohnung für einen Mann.«
Sie verstand nicht, warum er sich ärgerte. » Ach, weil das Strickzeug fehlt? Oder die geblümten Gardinen? Oder gar die Häkeldecke auf dem Bett?« Sie boxte ihn in die Rippen, doch er blieb ernst.
» Sie hat meinem Bruder gehört.«
Er wartete auf ihre Reaktion, aber was interessierte sie, wer hier vorher gewohnt hatte?
» Wo habe ich
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