Der Traum des Schattens
eigentlich meine Sachen?« Wo waren sie noch? In Akink nicht, oder? Dort hatte Atschorek ihr alles gegeben, was sie brauchte. In Adrienns Haus? Schon wieder hatte sie Schwierigkeiten mit ihrem Gedächtnis.
» Dein Koffer ist längst im Haus«, sagte Kunun. » Er steht unten im Flur. Ich habe bereits vor Tagen veranlasst, dass deine Besitztümer geholt werden. Es ist viel zu wenig für jemanden wie dich. Du verdienst schönere Kleider, die dir und deiner Stellung angemessen sind.«
Ihr altes Leben vor der Verwandlung schien auf einmal unendlich weit weg. Hatte sie sich seitdem überhaupt die Zähne geputzt? » Können Schatten Mundgeruch haben? Vor Karies müssen wir uns wahrscheinlich nicht fürchten, oder?«
In Kununs Augen lag eine ungewohnte Zärtlichkeit. » Wir sehen uns dann später«, sagte er, küsste sie zum Abschied auf die Wange und verschwand.
Sie hörte auf das Surren des Fahrstuhls und schloss die Tür, die er offen gelassen hatte. Endlich eine eigene Wohnung! Beschwingt schaute sie sich noch einmal alle Zimmer an. Was würde sie als Erstes umgestalten? Wollte sie überhaupt etwas verändern? Sie stellte sich vor das Sofa und drapierte die Kissen neu– irgendwie musste sie der Einrichtung ja ihren Stempel aufdrücken.
» Hanna.«
Sie fuhr herum. » Kannst du nicht wenigstens anklopfen?«
Der Blonde, Kununs kleiner Bruder. Er hatte einen gehetzten Gesichtsausdruck, als wären die Wölfe hinter ihm her. Dabei gab es hier in Budapest gar keine Wölfe, und keiner der Schatten würde es wagen, sich am Bruder des Königs zu vergreifen.
» Wir sind allein«, sagte er. » Endlich. Erklären kannst du es mir später. Los, wir müssen hier raus, bevor er zurückkommt oder jemanden herschickt, der nach dir sieht.«
» Hier raus? Was ist los, brennt es?«
» Du kannst jetzt aufhören mit dem Theater!«, rief er. » Ich bin da. Was auch immer du tust, ich will ein solches Opfer nicht. Wir verlassen die Stadt, das Land, wir verschwinden, egal wohin. Du brauchst keine Angst um mich zu haben. Wir werden rennen, als wäre der Teufel hinter uns her. Ich habe keine Angst. Nur so… so leben? Der Preis ist mir zu hoch.«
Wovon redete er?
» Soll das ein Witz sein?«, fragte sie verdutzt.
» Hanna!«, flehte er. » Schau mich nicht so an, als wüsstest du nicht, wovon ich spreche. Bitte! Er ist nicht da. Was immer er dir angetan hat, um dich so einzuschüchtern, er wird dafür bezahlen. Nur komm jetzt mit mir, schnell!«
» Wieso mit dir? Was bildest du dir eigentlich ein?« Er war süß, wie er vor ihr stand, mit blitzenden Augen und geröteten Wangen. Dabei war er so hübsch, groß und schlank und… und ein wenig wie Kunun. Es fiel ihr schwer, streng mit ihm zu sein. » Hanna, was ist los? Was ist passiert? Was spielst du hier?«
Mit wenigen Schritten war er bei ihr, er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Sportlers.
» Ich spiele überhaupt nichts.« Sie musterte ihn, während er sich vor ihr aufbaute. Nein, er war nicht wie der ruhige, stets gelassene Kunun. Ihm fehlte etwas, das Kunun hatte, diese Souveränität. Irgendwie wirkte er verstört. » Was willst du? Du kannst hier nicht einfach so hereinplatzen.«
» Hanna«, sagte er gequält.
Sie seufzte, langsam wurde sie wirklich ungeduldig. » Sag einfach, was du von mir willst, ja?«
» Du bist ein Schatten.«
» Ach, auch schon gemerkt?«
» Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte er und rang die Hände. » Das sollte nicht sein… nie! Du bist mir so fremd geworden. Du schaust mich an, als würdest du mich gar nicht kennen.«
» Wir haben uns einmal kurz gesehen«, sagte Hanna. » Das würde ich nicht gerade als kennen betrachten.«
» Wir haben was?«
» Wir sind einander vorgestellt worden.« Sie merkte selbst, dass sie jetzt deutlich kühler klang. Wieso nervte dieser Kerl so? Hatte er irgendwo gewartet, bis Kunun die Wohnung verlassen hatte? Wozu? Langsam wurde er ihr unheimlich. » Im Festsaal. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass wir uns ausgiebig unterhalten hätten.«
Er starrte sie fassungslos an. » Was ist mit dir passiert?«, rief er. Auf einmal sprang er über den Sofatisch und packte sie bei den Schultern. » Hanna, rede mit mir! Schau mich an! Du kannst doch nicht alles vergessen haben!«
Sie schüttelte ihn ab, aber er hielt sie fest und krallte seine Hände in ihre Ärmel. » Hanna!«
» Das reicht.« Kunun stand in der Tür, ihren Koffer in der Hand. » Lass sie sofort los. Du vergisst dich.«
Mattim
Weitere Kostenlose Bücher