Der Traum des Schattens
Blick, ihr Lächeln, ihre ausgestreckte Hand. » Sie hat getan, als ob sie mich nicht kennt. Es gibt nur einen Grund, warum sie bei so etwas mitmachen würde. Weil man sie dazu zwingt. Was haben Kunun und Atschorek ihr gesagt? Dass ich sonst getötet werde?« Er stöhnte auf. » Sie ist ein Schatten geworden und tanzt mit Kunun, damit ich weiterleben kann? Das sieht meinen Geschwistern ähnlich. Sie wissen genau, dass ich mich an einem Leben unter diesen Umständen nicht erfreuen kann, dass sie mir damit jede Stunde unerträglich machen!« Er brauchte irgendetwas, um es zu zerschlagen oder zu zerreißen, aber der Tisch war leer.
Mirita starrte ihn immer noch an und schüttelte bedauernd den Kopf.
» Sie macht bei diesem Spiel mit, um mich zu schützen. Ich muss sie da rausholen… Mirita, du musst mir helfen! Irgendwie finde ich die Lösung, wir werden es schaffen, Hanna zurückzuverwandeln. Sie hat es damals für mich getan, warum sollte es umgekehrt nicht genauso klappen? Aber zuerst muss sie da raus. Mich werden sie bestimmt nicht zu ihr lassen, deshalb musst du ihr die Botschaft überbringen, wo wir uns treffen.«
» Mattim, warte…«
» Was?«, rief er. » Was noch? Ich werde nicht dabei zusehen. Ich werde nicht dulden, dass sie sich für mich opfert!«
Das Mitleid in ihren Augen hätte ihn warnen sollen. Doch er war so in den Gedanken verbissen, Hanna sofort zu retten, dass er nicht darauf achtete.
» Mattim, es ist ganz anders, als du denkst. Es tut mir ja so leid! Bitte sei nicht wütend auf mich, wenn ich es dir sage. Versprich mir, dass du nicht wütend bist! Ich bin nur der Bote, wie man so schön sagt.«
» Was meinst du damit?« Schlimmer konnte es nicht kommen. Hanna hatte ihr Leben, ihr sonniges, sommerliches, lichtes Leben für ihn aufgegeben. Was sollte er mit seinem eigenen Leben, unter diesen Bedingungen?
» Ich wollte es zuerst auch nicht glauben. Aber ich habe die beiden beobachtet, und sie scheint Kunun gar nicht so abstoßend zu finden, wie du denkst. Es sieht nicht aus, als würde sie sich opfern. Ich hatte den Eindruck, sie ist wirklich mit ihm zusammen– freiwillig.«
Mattim starrte sie an. » Nein. Du musst dich täuschen. Wir sprechen hier von meiner Hanna!«
» Ich hab gewusst, dass du wütend wirst.«
» Ich bin nicht wütend! Das ist Hanna! Hanna, von der wir reden! Sie liebt mich!«
Sein Aufschrei hallte in dem Raum nach. Sie liebt mich. Wenn es irgendeine Gewissheit gab, dann diese.
» Mattim, so etwas passiert andauernd. Wenn die Dinge immer so blieben wie am Anfang, gäbe es keine Trennungen und keine Scheidungen, dann wären wir im Paradies. Du kannst es bloß nicht glauben, weil es dich selbst betrifft.«
» Hanna liebt mic h !«, rief er.
» Bitte schön«, sagte Mirita resigniert. » Glaub doch, was du willst.«
Sofort schämte er sich für seinen Ausbruch. Mirita konnte ja nichts dafür. Sie wusste nichts von dem halben Jahr bei Bartóks Mutter, von ihrem Leben in der Sonne, von dem, was zwischen ihm und Hanna gewesen war.
» Du hast recht, entschuldige«, sagte Mirita. » Bestimmt spielt sie es nur, um dich zu retten. Es kann eigentlich gar nicht anders sein. Ausgerechnet Kunun! Noch dazu mit diesem Narbengesicht. Da würde jedes Mädchen schreiend weglaufen. Außerdem ist er der Feind. Es käme ein bisschen plötzlich, wenn sie sich auf einmal in ihn verliebt hätte.«
Er sagte nichts dazu.
» Wie lange hast du sie nicht gesehen? Zehn Tage? In der Zeit kann sie sich nicht so verändert haben, natürlich hast du recht. Sie war nie in ihn verliebt. Sie liebt ja dich.«
Hanna und Kunun. Ungebeten stiegen die Bilder, die er nicht sehen wollte, in ihm auf. Hanna mit Kunun im Fahrstuhl, wie sie miteinander flüsterten. Wie sie ihn anschaute, mit einem Blick, fremd und erwachsen. Kunun, der sie beide aus dem Kerker rettete, der Hanna auf seinen Armen trug und mit ihr durch den Rauch rannte.
Was wusste Mattim denn davon, ob die beiden sich noch zu anderen Zeitpunkten getroffen hatten? Was sie geredet hatten, wie sie einander angeschaut hatten? Was wusste er wirklich über Hannas Gefühle?
» Sie hat darunter gelitten, auf der Flucht zu sein. Immer auf der Flucht, immer in Angst«, sagte er leise. » Ihre Familie nicht besuchen zu können, nicht mit den Menschen zusammen zu sein, die ihr etwas bedeuten. Immer zu fürchten, dass alle, die ihr wichtig sind, in Kununs Blickwinkel geraten könnten. Hanna hat sich Normalität gewünscht, wer wüsste das besser als
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