Der Traum des Teufels
Sonne war gerade erst untergegangen. Zeit, neue Pläne zu machen. Wer konnte ihm helfen? Wen kannte er? Eigentlich niemanden in der modernen Zeit, in der er wieder auferstanden war. Er erinnerte sich an das Postfach in Berlin Kreuzberg. Dorthin hatte er immer seine Untersuchungsergebnisse geschickt. Vielleicht gab es dieses noch? Unwahrscheinlich! Wenn er aber herausbekam, wer es damals gemietet hatte und diesem Herrn Chyriel eine Nachricht hinterließ? Sein Erschaffer war doch für ihn verantwortlich. Mengele grinste. Nach den alten Gesetzen musste er ihm sogar helfen, wenn er - Mengele - ihn darum bat. Creatio et honoris. Er beschloss, davon Gebrauch zu machen. Es war nur eine vage Hoffnung, denn nach so langer Zeit war eine Antwort fast aussichtslos, doch es war der einzige Anhaltspunkt, den er hatte. Er begab sich zum Stadtarchiv. Es würde eine lange Nacht werden. Irgendwo musste er anfangen. Die Deutschen, dieses Volk der Jäger und Sammler, würden keine noch so unwichtige Aktennotiz seiner Beamten vernichtet haben. Mengele grinste.
* * *
Der Suchende war älter als der Halbengel Leander Knight. Er hatte die Blütezeit der riesigen Insel von Atlantis erlebt und ihren Niedergang. Die Vampire waren nur eine von vielen Plagen gewesen, die Gott ihnen geschickt hatte. Doch eine, deren man Herr werden konnte. Nichts gegen die große Flut, die später kam.
Chyriel war sein Name, aus der Legion der Racheengel. Hohepriester der dritten Pyramide von Atlantis. Gefallen und geläutert und wieder gefallen. Die hellblauen Eisaugen des Unsterblichen schauten durch die blinden Fensterscheiben eines verlassenen Gebäudes, und seine Ohren lauschten auf das Wiegen der großen Bäume, die dieses Grundstück umsäumten, und gemeinsam mit dichten, mannshohen Brombeerhecken unsichtbar machten, die die einstigen Ziegelmauern umschlossen hatten. Der Wind entlockte dem dichten Blätterwerk einen Klang wie Meeresrauschen. Ein vertrautes Geräusch.
Der Suchende trug ein braunrotes langes Gewand von der Farbe getrockneten Blutes. Das Gewand der alten Priester. Die Ornamente an den Ärmeln und an den Kragenlitzen waren längst verblasst, der einst glänzende Stoff matt und stumpf geworden. Einzelne faserige Löcher zeigten sich bereits darin. Dieses Gewand trug er nur hier, wo er sich zuhause fühlte, in diesen Mauern aus Schmerz und Trauer. Genauer gesagt in dem großzügig angelegten Zimmer des früheren Anstaltsleiters, in dem seine feinen Sinne noch immer den Duft edler Zigarren und Weinbrands wahrnahmen. Dieser Mann hatte es sich gut gehen lassen, während Angst und Leid ihn umflutet hatten.
Irgendwann waren dann alle, die hier arbeiteten, ziemlich überstürzt aufgebrochen. Das erklärte auch die vielen persönlichen Dinge, die die Menschen zurückgelassen hatten, zerbrochene Brillen, Kleidungsstücke, Zahnbürsten. Und die Leichen der Insassen, die man nicht mehr entsorgt hatte. Chyriel verbrannte die Überreste, die er in den einzelnen Zellen und im Keller fand, bei seinem Einzug in dem Garten hinter dem Haus. Dieser Garten, der früher viele Nutzpflanzen beinhaltete, bestand mittlerweile aus einem verwilderten Park.
Der halbverfallene Backsteinbau war in den Zeiten des großen Diktators eine menschliche Versuchsanstalt gewesen. Das feuchte Mauerwerk hatte das Leid der hier gefangenen und gequälten Opfer aufgesogen und spie es jedem Besucher ins Gesicht. Die stählernen Zellentüren standen weit offen, und in den leeren Fluren flüsterten zahllose Stimmen ihre Geschichten immer wieder aufs Neue. Von den heruntergerissenen losen Tapeten tropfte das Kondenswasser herunter wie der Angstschweiß der vielen tausend Menschen, die in dieser Institution gequält wurden, aussortiert von der Gesellschaft und als geisteskrank zum medizinischen Freiwild erklärt.
Der Wind pfiff durch die morschen Bretter der vernagelten Fenster im ersten Stockwerk, rüttelte an rostigen Gittern, zerrte an den vergilbten Kalendern aus dem Jahre 1945 in den Schwesternzimmern, raste hinunter in die geheimen Keller mit den maroden elektronischen Apparaturen. Keller, aus denen früher unmenschliche Schreie drangen. Hinzu kam der abstoßende Geruch von Schimmel, Verwesung und modrigen Laken. Der Giftatem der Vergangenheit lag über dem gesamten vergessenen Komplex, an dem niemand mehr ein Interesse zu haben schien. Ganz sicher würde hier niemals mehr ein Lebender freiwillig einen Fuß hineinsetzen, es sei denn, um das gesamte Gebäude
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